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Denk-Orte: Ein Dorf erinnert sich  
  Nicht über Dörfer, sondern in Dörfern forschen - so lässt sich das Credo des kulturwissenschatlichen Forschungsprojekts "Denk-Orte" umreißen. Drei Historiker untersuchen in einer niederösterreichischen Gemeinde, wie sich beim Erzählen von Geschichten über die Vergangenheit Einzelne auf den Standpunkt der Vielen des Dorfes stellen - und von dort aus in Streit über das Geschichtsbild geraten.  
Auf diese Weise werden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen konkretisiert, die der französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren mit einem abstrakten Begriff bezeichnete: mémoire collective ("kollektives Gedächtnis").
Neue Blicke auf einen alten Gegenstand
Dörfer üben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Faszination auf - meist städtische - Intellektuelle aus. Das Dorf als schützenswerter Hort der Tradition oder, umgekehrt, als anpassungsbedürftiges Relikt in der Moderne begegnet uns in zahlreichen Schriften von Wissenschaftlern, Pädagogen und Journalisten.

Die Bilder, die der romanisierende oder modernisierende Blick erzeugt, werden den dörflichen Lebenswelten nur selten gerecht. Wer das Dorf verstehen will, muss den sicheren Standpunkt des Beobachters verlassen, muss sich mit dem Wahrnehmen, Denken und Handeln der Teilnehmer auseinandersetzen.

Bernhard Ecker, Ernst Langthaler und Martin Neubauer vom Netzwerk für Regionalstudien gingen im Rahmen des Forschungsschwerpunkts "Kulturwissenschaften / Cultural Studies" am Beispiel einer niederösterreichischen Gemeinde der Frage nach: Auf welche Weise wird im Erinnern und Vergessen von Frauen und Männern das Dorf als Gemeinschaft geformt?
->   Forschungsprojekt "Denk-Orte"
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Die Autoren der Studie
Ernst Langthaler (ernst.langthaler@telering.at), Dr. phil., geb. 1965, Mitarbeiter in verschiedenen Forschungsprojekten und Lehrbeauftragter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Bernhard Ecker (bernhard.ecker@trend-profil.at), Mag. phil., geb. 1973, Mitarbeiter des Wirtschaftsmagazins "trend". Martin Neubauer (neubauer_martin@gmx.at), Mag. phil., geb. 1973, Mitarbeiter in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Alle drei sind Mitglieder des Netzwerks für Regionalstudien.
->   Netzwerk für Regionalstudien
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Beobachten als Teilnehmen

Projektmitarbeiter im Interview mit einer Dorfbewohnerin.
Entgegen einer gängigen Praxis in Gemeindestudien verorten sich die Forscher nicht außerhalb des Dorfes; vielmehr begreifen sie sich als Teilnehmer von Gedächtnisdiskursen im Dorf.

Der Dialog zwischen Forschern und Beforschten wird auf mehrere Weisen angeregt: durch lebensgeschichtliche Gespräche über die Erfahrungen, die einzelne Bewohner mit verschiedenen Orten im Dorf verbinden: mit dem Haus, der Schule, der Kirche, dem Wald, der Straße und so fort; über die kommentierte Veröffentlichung dieser Erzählungen in Form einer CD; durch eine Gruppendiskussion über die Frage, wie sich die Gedächtnisse der Frauen und Männer im Dorf in dieses ¿veröffentlichte Dorfgedächtnis¿ fügen.

In diesem Dialog werden die Beobachter auch zu Teilnehmern und, umgekehrt, die Teilnehmer auch zu Beobachtern. Kurz, nicht nur die Forscher, sondern auch die Beforschten beginnen über das dörfliche Gedächtnis zu reflektieren
"Bodenständigkeit" formiert Kollektiv ...
Dieser Dialog zwischen Forschern und Beforschten zeigt zweierlei: Einerseits nützen die Dorfbewohner das affirmative Potenzial der CD, um ihre Vorstellung einer Dorfgemeinschaft bekräftigen.

Über Geschichten, die rund um die Topoi "Gemütlichkeit", "Fleiß und Genügsamkeit" und "Bodenständigkeit" angesiedelt sind, formieren sich die Einzelnen zu einem gedachten Kollektiv.
... "das Politische" erzeugt Risse
Andererseits kommt auch ein kritisches Potenzial zur Geltung. Risse in der vermeintlichen Dorfgemeinschaft werden sichtbar, wenn die Rede auf "das Politische" kommt. Vor allem in der Debatte um die nationalsozialistische Vergangenheit des Dorfes beziehen die Sprecher immer deutlicher Position, bis sie sich auf verschiedenen Seiten eines umkämpften Feldes innerhalb der Gedächtnislandschaft wiederfinden.
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Die Audio-CD (Bernhard Ecker / Ernst Langthaler / Martin Neubauer: Denk-Orte. Aus dem Gedächtnis eines Dorfes, Frankenfels 2000, ISBN 3-9500720-1-2) ist beim Netzwerk für Regionalstudien (E-Mail nrs-office@telering.at) oder im Buchhandel zum Preis von ATS 150,- erhältlich.
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Das Versteinerte zum Tanzen bringen
Nun werden in der Gruppendiskussion Fremden gegenüber Dinge benannt, die in der Regel dem Gespräch unter Vertrauten vorbehalten bleiben: War der ehemalige Wehrmachtssoldat Zeuge von Kriegsverbrechen? Hat eine Frau aus dem Dorf die Kinder eines Selbstmörders als "erbkrank" denunziert? Wurde die toten Besatzungsmitglieder eines abgeschossenen Flugzeugs der Alliierten bis auf die Haut von Einheimischen ausgeplündert?

Die vorherrschende Deutung, alle Dorfbewohner seien in gewisser Weise Opfer eines übermächtigen Regimes gewesen, wird durch das Benennen von Mittätern und deren Taten erschüttert. In diesem Gedächtnisdiskurs übernehmen die Forscher eine Moderatorenrolle: Sie hören zu, wenn mächtige und weniger mächtige Sprecher Position beziehen; und sie machen sich zum Sprecher von ohnmächtigen Positionen, die im Diskurs unterzugehen drohen.

Hier zeigt eine Kulturwissenschaft, die den Dialog zwischen Forschern und Beforschten anregt, ihre gesellschaftliche Relevanz: Versteinerte Geschichtsbilder werden durch Reflexion gewissermaßen zum Tanzen gebracht.

(red)
->   eForum zeitGeschichte mit ausführlichem Projektbericht und weiterführender Literatur
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Cultural Studies: Kooperation mit science.orf.at
Im Rahmen einer Kooperation des "Forschungsschwerpunkts Kulturwissenschaften/Cultural Studies" mit science.orf.at werden eine Reihe von Projekten österreichischer Forscher vorgestellt.
->   Forschungsschwerpunkt Kulturwissenschaften / Cultural Studies
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Bisher erschienene Geschichten:
->   Die Stief-Familien als Forschungsprojekt
->   Dokumentarfilme: Inszenierte Wirklichkeiten
 
 
 
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01.01.2010