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Ichbezogenheit erhöht Suizid-Risiko  
  Welche Gründe zu einem Selbstmord führen, ist ein leider immer aktuelles Forschungsgebiet der Psychologie. Eine neue Studie hat nun die Werke von Schriftstellern analysiert, die Suizid begangen haben. Eine der gefundenen "Grundtendenzen": je ichbezogener ihre Schreibweise, desto höher die Wahrscheinlichkeit für Selbstmord.  
Die Psychologen James Pennebaker von der University of Texas in Austen und Shannon Wiltsey Stirman von der University of Pennsylvania untersuchten die Werke von neun amerikanischen, britischen und russischen Schriftstellern, die sich umgebracht haben.
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Die Ergebnisse der Studie wurden in der aktuellen Ausgabe (Juli/August) der Zeitschrift Psychosomatic Medicine veröffentlicht.
->   Psychosomatic Medicine
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Referenzgruppe mit weiteren Autoren
Die Schriftsteller, darunter so bekannte Namen wie Sylvia Plath oder Matthew Arnold, lebten alle (mit einer Ausnahme) im 20. Jahrhundert. Als Vergleich analysierten die Psychologen parallel dazu die Schriften von neun weiteren Autoren.

Diese lebten in etwa zur gleichen Zeit und entsprachen den Selbstmördern in Geschlecht und Nationalität. Sie begingen jedoch nicht Suizid, obwohl viele von ihnen ebenfalls an Depressionen und anderen Gemütskrankheiten litten.
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Liste der Schriftsteller
Alle Schriftsteller, die Selbstmord begangen haben (links) und die jeweiligen Kontroll-Autoren (rechts):

Randall Jarrell - Robert Lowell
John Berryman - Lawrence Ferlinghetti
Sylvia Plath - Denise Levertov
Anne Sexton - Adrienne Rich
Adam L. Gordon - Matthew Arnold
Sarah Teasdale - Edna St. Vincent Millay
Hart Crane - Joyce Kilmer
Sergei Esenin - Boris Pasternak
Vladimir Maiakovski - Osip Mandelstam
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Software durchsucht Literatur
Insgesamt analysierten die Forscher rund 300 Gedichte mit Hilfe einer speziellen linguistischen Software. Diese ist so programmiert, dass sie etwa 70 "Dimensionen" der Sprache erkennen kann.

So lassen sich zum Beispiel Wörter herausfiltern, die mit negativen Gefühlen verbunden sind. Das Programm erkennt auch Pronomina, also diejenigen Worte, die auf die Autoren selbst oder auf andere Personen verweisen.
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Selbstmorde in Österreich
In Österreich sterben jährlich mehr Menschen durch Selbstmord als durch Verkehrsunfälle. Während an die 1.000 Menschen pro Jahr Opfer von Verkehrsunfällen werden, begehen rund 1.600 Personen Selbstmord. Die Suizidrate ist seit 1986 rückläufig, besonders gefährdet sind in Österreich jedoch alte Menschen, wie eine Studie des Wiener Kriseninterventionszentrums kürzlich herausfand. Der österreichische Kinderpsychiater und Psychotherapeut Max Friedrich gab vor kurzem bekannt, dass in Österreich durchschnittlich pro Monat ein Schüler Selbstmord begehe, mit Spitzenwerten in den Zeugnismonaten Februar und Juni.
->   Selbstmorde in Österreich von 1970 bis 1999 der Statistik Austria als pdf-Datei
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Verschiedene Theorien zum Suizid
Natürlich gibt es bereits unzählige Arbeiten verschiedenster Wissenschaftler zum Thema Selbstmord. So findet sich etwa bei dem französischen Soziologen Emile Durkheim das Modell der "sozialen Integration/Abkoppelung".

Laut dessen Theorie sei ein Hauptgrund für einen Selbstmord die fehlende "(Ver)Bindung" eines Individuums zu anderen Menschen bzw. an die Gesellschaft. Ein anderes, traditionelleres Modell betont die Rolle von Gefühlen wie Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit.
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Emile Durkheim, Le Suicide (1897)
Durkheim suchte unter anderem auch nach Gründen für den Selbstmord. Laut seiner Arbeit findet sich kein Zusammenhang zwischen individuellen Zuständen (z.B. Alkoholismus) oder erblichen Faktoren und dem Selbstmord. Dagegen fand er sehr wohl soziale Ursachen, als er Faktoren wie z.B. Religionszugehörigkeit, Familienstand und anderes analysierte. Er schloss auf einen Zusammenhang zwischen Selbstmordrate und dem Grad der Integration der Individuen in Religionsgemeinschaft, Familie und Staat. Durkheim unterscheidet zwischen vier Arten bzw. Ursachen des Selbstmordes, die alle mit der sozialen Bindung eines Individuums zusammenhängen.
->   Das Emile Durkheim Archiv
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Überprüfung zweier Ansätze
Genau diese beiden Ansätze wollten die US-Forscher mit ihrer Untersuchung überprüfen: Hoffnungslosigkeit, so die Meinung der Forscher, lasse sich an der Erwähnung von Tod und anderen negativen Emotionen belegen. Dabei jedoch konnte kein signifikanter Unterschied zu der Kontrollgruppe festgestellt werden.
Durkheims Theorie bestätigt
Anders jedoch die Theorie Emile Durkheims: In den Werken der durch Suizid gestorbenen Autoren fanden sich deutlich mehr Pronomina der ersten Person Singular (Ich, mir, mein), die auf eine größere Ichbezogenheit und Abgelöstheit von Mitmenschen hinweise, so die beiden Psychologen.
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Beispiel Sylvia Plath
Die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath etwa, die 1963 Selbstmord beging, verwendete gegen Ende ihres Lebens hin immer weniger Pronomina, die auf ein Gefühl der Gemeinsamkeit, auf eine Bindung an ihr Umfeld verweisen, so ein Teilergebnis der Studie. Das zunehmende Fehlen des Wortes "wir" deute auf eine wachsende Isolierung hin, erklärt Psychologe Pennebaker.
->   The Sylvia Plath Forum
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Mehr "sexueller Wortschatz"
Ein weiteres Ergebnis der Analyse betrifft die Häufigkeit sexuell konotierter Wörter in den Werken der Autoren: Die Selbstmörder unter ihnen benutzten solche Ausdrücke weitaus häufiger.

Ob dies in irgendeiner Weise auf die beiden Theorien zum Suizid umzulegen ist, sei jedoch ein Thema weiterer Untersuchungen, meint James Pennebaker.

(red)
->   Psychologische Fakultät der University of Texas
->   Psychologische Fakultät der University of Pennsylvania
 
 
 
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01.01.2010