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Neues Giddens-Buch zur sozialen Ungleichheit  
  Der Titel des neuesten Buchs von Anthony Giddens "Die Frage der sozialen Ungleichheit" suggeriert, es handle sich um ein soziologisches Fachbuch. Tatsächlich interveniert der englische Soziologe wie schon bei seinen letzten Veröffentlichungen im Terrain der Politik und gibt auf schwierige Fragen einfache Antworten.  
Schwierige Fragen, einfache Antworten
"Die Frage der sozialen Ungleichheit" bleibt der Tradition von "Jenseits von Links und Rechts" treu und ist eine im Ton moderate Streitschrift, die den von New Labour eingeschlagenen Weg des "Dritten Weges" verteidigen soll.

Eine Art "Dritter Weg für Kinder", denn Giddens bietet hier keine tiefer gehenden Analysen politischer oder sozioökonomischer Prozesse, sondern eine Übung in vereinfachenden Antworten auf schwierige Fragen.
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Anthony Giddens
Anthony Giddens wurde 1938 im Londoner Arbeitervorort Edmonton geboren und ist seit 1997 Direktor der London School of Economics and Political Science (LSE), an der bereits der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek lehrte, der die Politik Margaret Thatchers maßgeblich beeinflusste. Giddens streitet ab, der politische Berater Tony Blairs zu sein, was diesen allerdings nicht hindert, Giddens ausgiebig zu zitieren.
->   Giddens an der London School of Economics
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New Times

Ganz in diesem Sinne fasst Giddens gegenwärtige gesellschaftliche Wandlungsprozesse in feuilletonistischer Manier als "Globalisierung", "Wissensgesellschaft" und "Netzwerkökonomie".

Kurz, es sind neue Zeiten angebrochen, und wo sie es noch nicht sind, schreibt Giddens sie herbei: Entscheidend ist, worüber "man spricht" oder "nicht mehr spricht". So spricht zum Beispiel "seit dem Ende des Kommunismus niemand mehr davon, weite Bereiche der Wirtschaft von marktwirtschaftlichen Mechanismen auszunehmen."

Und Giddens erst recht nicht, denn "es ist heute kaum noch nachvollziehbar, dass dies einmal als sinnvolles oder sogar notwendiges Ziel erschien", schließlich schafft eine "erfolgreiche Marktwirtschaft viel mehr Wohlstand als jedes alternative System."
Lechts und Rinks
Bei seiner Abrechnung mit der "alten Sozialdemokratie" und der "traditionellen Linken" ist Giddens nicht zimperlich. Unermüdlich ist er, wenn es darum geht, ihr zu verdeutlichen, dass es "heute" nicht mehr zutreffend ist, von Klassenkonflikten zu sprechen.

Glaubt man Giddens, so lässt sich das Weltbild der alten Linken in einen schlichten Satz packen: "Die Bösen, das sind die Kapitalisten". Weil das nicht stimmt, rät er der alten Linken, sich von der "Befreiungspolitik zu befreien", schließlich geht es nicht um Politik, sondern um Werte.

Deshalb braucht die Sozialdemokratie aber keine Angst zu haben: "Die Sozialdemokraten sollten nicht damit hadern, dass diese Position sie in eine größere Nähe zum sozialen Liberalismus bringt, als viele bislang für möglich hielten."
Der Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn kennen ...
...hat sich überlebt, sagt Giddens. Armut und Ungleichheit haben heute andere Ursachen als noch vor wenigen Jahren. Zwar, so räumt er ein, ist "es nicht leicht, das Geflecht der Ursachen für die zunehmende ökonomische Ungleichheit zu entwirren" und "die Problematik ist wesentlich komplexer, als ich es hier darstellen kann", aber "alle Wohlfahrtsstaaten erzeugen Abhängigkeit, unehrliches Verhalten, Bürokratisierung, einflussreiche Interessengruppen und Betrugsfälle."
Neuer Gesellschaftsvertrag
Unehrlichkeit und Abhängigkeit passen nicht zu dem "neuen Gesellschaftsvertrag" wie er Giddens vorschwebt. Dieser Vertrag - zwischen wem er auf welcher Basis geschlossen werden könnte, erklärt er nicht - kennt "keine Rechte ohne Verpflichtungen" und setzt voraus, dass sich "auch die Arbeitnehmer" und der Staat als "Sozialinvestor" eine "unternehmerische Haltung" zu eigen machen.

Diese Aneignung ist Giddens, selbst Arbeitnehmer, bereits recht gut gelungen, zieht sich die ökonomische Diktion doch durch das gesamte Buch.
Verkabelte Arbeiter
Ein neues Subjekt der Geschichte gibt es bereits: den verkabelten Arbeiter. Das sind "Menschen, die den größten Teil des Tages am Computer verbringen, dabei aber keine Befehlsempfänger sind, sondern eher problemlösende als repetitive Aufgaben ausführen."

Sie bilden wohl auch die Mitte, für die Giddens schreibt oder zumindest zu schreiben meint, und einen wunderbaren Gegensatz zu den "apathischen Wählern" sowie jenen, die nicht in der Lage sind, "ihr Wohlergehen aus eigener Kraft zu mehren".

Die verkabelten Arbeiter bilden das soziale Rückgrat der "Zivilgesellschaft", neben "Wirtschaft" und "Staat" der dritte "Kernbereich" moderner Gesellschaften.
Elektronische Fußfesseln
Informationen sind vielfältig einsetzbar, sie mehren gesellschaftlichen Wohlstand und sie dienen im Zweifelsfall der Freiheit der Zivilgesellschaft, nämlich dann, wenn man sie als "elektronische Fußfesseln" verwendet, um auf diese Weise Gefängnisstrafen und auch Bewährungsstrafen zu ersetzen. Dies ist denn auch die autoritäre Kehrseite der harmonischen Dreieinigkeit von Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft.

Giddens spielt mit den Ängsten der von ihm ganz "unideologisch" angepeilten Mittelklasse wenn er fragt: "Sollte man den Vorschlag aufgreifen, Sicherheitszonen in den Innenstadtbereichen einzurichten, damit möglicherweise durch Überwachung und flächendeckende Polizeipräsenz ein öffentlicher Raum entsteht, an dem Menschen zusammenkommen können?"
Simplifizierende Verteidigung des "Dritten Weges"
Dass solche Maßnahmen, wo sie getroffen wurden, in der Regel nicht dazu dienen, einfach "Menschen zusammenkommen" zu lassen, sondern nur jene, die konsumieren, weiß man in der Stadtsoziologie. Hier wird Giddens also zynisch, seine Vorschläge zur Kriminalitätsbekämpfungen zeigen, dass nicht alle und jeder Teil des nebulösen "wir" ist, von dem aus Giddens seine Thesen formuliert.

Insgesamt eine simplifizierende Verteidigung des "Dritten Weges", die der Komplexität seiner Kritiken nicht gerecht wird.

Cathren Müller
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Das Buch von Anthony Giddens "Die Frage der sozialen Ungleichheit" ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 230 Schilling bzw. bald 16 Euro.
->   Mehr zum Buch auf der Suhrkamp-Homepage
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01.01.2010