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Peter Sloterdijk beim Forum Alpbach  
  "Wer heute Europa verstehen will, muss Amerikanist
werden." Diese These vertrat der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Eröffnungsrede beim Europäischen Forum Alpbach am Donnerstag.
 
Sloterdijk interpretierte die europäische politische und Geistesgeschichte als eine "Serie von Reichsübertragungen", angefangen von den Römern über den spanischen und britischen Kolonialismus bis zum Aufstieg der USA zur Weltmacht.
Europa: Wiederaufführung des Imperium Romanum
Europa bildet sich nach zwei Drehbüchern, sagt Peter Sloterdijk: einem Alt-Europäischen und einem Neu-Europäischen.

Das alte Gravitationszentrum Europas war Rom und Europa ist das Skript zur Wiederaufführung des Imperium Romanum. Die Europäer, so Sloterdijk, sind dazu verurteilt, das Spiel der alten Römer weiterzuspielen.
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Karl der Große
Karl der Große griff dieses Skript als erster auf, unter den Ottonen wird die renovatio imperii zur förmlichen Programmatik des Kaisertums, lebte als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort und in den Habsburgern sogar bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
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Nach 1945: Historisches Vakuum
Nach 1945 sei insbesondere Mitteleuropa in ein historisches Vakuum eingetreten, die Gehirne von allen ernstzunehmenden geschichtsphilosophischen Gedanken evakuiert, sagt Sloterdijk.
Reichsübertragung in den außereuropäischen Raum
Zunächst über die Spanier, dann von den britischen Inseln ausgehend sei das Reichsspiel - von den Briten besonders erfolgreich - aus Europa exportiert worden, sagt Sloterdijk.
USA: Aktuellste Inszenierung der römischen Idee
Am erfolgreichsten sei dabei der Export nach Amerika gewesen, das heute die aktuellste Inszenierung der römischen Idee gebe.
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Römerspiele in Washington
"Die Römerspiele gehen in Washington weiter", lautet der aktuelle Befund des deutschen Philosophen. Auch die amerikanische Sicherheitspolitik und Weltherrschaft interpretierte Sloterdijk in einer Tradition Ciceros. So hätten die Römer stets im Dienste der Bundesgenossen und mit dem Ziel der "Befriedung" ihr Reich expandiert.
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Washington als Beweis
Als Beweis dafür zitiert Sloterdijk das Stadtbild Washingtons, seine klassizistische Architektur, das Capital als Replik der Kuppel der St. Pauls Cathedral oder mittelbar auch des Petersdoms in Rom.

"Die Amerikaner sind die Geschäftsführer des europäischen Zentralprojektes", sagt Sloterdijk.
Europa als Langzeitexperiment zur Erzeugung von Reichtum
Nach Paul Valerie definiert sich der europäische Mensch weder rassisch, noch durch Sprache und Brauchtum sondern durch Wünsche und Spannweiten des Willens.

Die neue europäische Dramaturgie besteht laut Sloterdijk darin, dass in Europa das Langzeitexperiment zur Erzeugung von kollektivem Reichtum etabliert worden sei.
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Die "Nebenlabors" des Experiments
Dieses Experiment sei auch in zwei "Nebenlabors" durchgeführt worden, davon wurde eines "gerade geschlossen" - die Sowjetunion, das andere übertreffe bereits das ursprüngliche Modell, gemeint sind wiederum die Vereinigten Staaten.
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Begehrens-Paniken und Eifersuchtsmechanismen
Sloterdijk spricht von Begehrens- oder Appetit-Paniken und Eifersuchtsmechanismen: Wir leben in einer Wunschkultur, deren Maxime lautet: Du sollst unter allen Umständen wünschen, egal ob die Wünsche erfüllbar sind oder nicht.

Wobei Sloterdijk unter Panik die epidemische Rivalität um ein Gut versteht, das ein anderer hat. Die Europäer seien so innerhalb von nur 200 Jahren hauptberuflich zu Konsumenten geworden, sagt Sloterdijk.
Existentialneid als Energiequelle
Früher seien Neid und Eifersucht von einem System von Tabus und Schamregeln umgeben gewesen, sagt Sloterdijk.

Die europäische Konsumgesellschaft habe auf dem basic instinct, dem Existentialneid ihre ganze Ordnung aufgebaut - auch hier ist übrigens geopolitisch Amerika der Schwerpunkt.
EU als Addition dieser Dramaturgien
Die Europäische Union sei die Addition aus alter Reichsdramaturgie und neuer Wunschökonomie, sagt Sloterdijk.

Während des vergangenen Jahrzehnts habe der imperiale Faktor in der EU an Bedeutung gewonnen, eine machtpolitische Neudefinition Europas stehe auf der Tagesordnung.
Europa wird zu Euroland
Und die Wunsch-Ökonomie drücke sich in den Römischen Verträgen ebenso aus wie in allen folgenden bis hin zur bevorstehenden Umwandlung Europas in Euroland, sagt Sloterdijk.

Allerdings sollte klar sein, dass Europa trotzdem mehr ist als nur ein Markt und eine große Firma, sagt Peter Sloterdijk.

"Die Europäische Union ist nach meiner Analyse tatsächlich das Additionsprodukt aus dem alteuropäischen Skript, für den man den Ausdruck Schicksalstheater verwenden könnte, und der neuen europäischen Wunschökonomie, die sich in den Römischen Verträgen von 1957 und den Folgeverträgen bis hin zur Maastrichter Umwandlung Europas in Euroland materialisiert hat."

Franz Simbürger, Ö1-Wissenschaft/APA
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01.01.2010