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Wie natürlich ist Natur?
Gastbeitrag von Max Diesenberger
 
  Natur ist nicht "natürlich": Was man darunter versteht, ist immer Ausdruck kultureller und sozialer Praxis. Die Wurzeln der modernen Wahrnehmung von Natur liegen in der Antike. Eine neue Studie geht daher der Geschichte der vielfältigen Begegnungsformen mit Natur in der Spätantike und im Frühmittelalter nach.  
Konstruktion von Natur
Keine Wahrnehmung von Natur ist selbstverständlich.

Ein und derselbe Naturraum kann im Lauf der Zeit sehr gegensätzlich wahrgenommen werden: Landstriche, die von den vornehmen spätantiken Menschen gemieden wurden und als Orte der Verbannung galten, wurden von den Christen des 4. bis 6. Jahrhunderts freiwillig besiedelt und als "schöner Ort angesehen".

Im 8. und 9. Jahrhundert wurden dieselben Räume wieder als negativ betrachtet.
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Gastbeitrag von Max Diesenberger
Der Autor dieses Artikels, Max Diesenberger, arbeitet in der Forschungsstelle für Geschichte des Mittelalters der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1. März 2001 läuft das FWF-Projekt "Identität und Heiligkeit im frühmittelalterlichen Bayern" bei Prof. Herwig Wolfram. Im Rahmen einer Kooperation des "Forschungsschwerpunkts Kulturwissenschaften/Cultural Studies" mit science.orf.at stellt er sein Projekt "Schreibungen der Natur im mittelalterlichen Europa" vor.
->   Forschungsstelle für Geschichte des Mittelalters
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Natürliche Räume?
Beispielsweise ging nicht die neue Eroberung von Naturräumen und die Entdeckung unterschiedlicher Spezies literarischen Beschreibungen voraus, sondern umgekehrt: im Gefolge von Texten wurden jeweils neue Räume erschlossen. So wurde der Volcano auf der gleichnamigen Insel nur bestiegen, um den Eingang zur vielbeschriebenen Unterwelt zu finden.

Ob auf einer Mittelmeerinsel oder auf den höchsten Gipfeln der Schweiz: die "Unterwelt" befand sich in vielen Vorstellungen "ganz oben". Andererseits waren Hügeln und Berggipfel auch die Stelle, an der sich der Erzengel Michael, gleichsam auf einer Zwischenstation vom Himmel zur Erde, zeigte.

Viele Michaelsheiligtümer und Kirchen wurden daher an Höhenlagen errichtet. Anselm von Canterbury wuchs in Aosta auf, und meinte als Kind, der liebe Gott wohne oben auf den Bergen, und man könne ihn besuchen. Allerdings blieb das Gebirge als Ort der Erholung und einer "theatralischen" Schönheit den Menschen bis ins 19. Jahrhundert fremd.
Schreibungen der Natur
Im Mittelalter entstanden neue Arten der Tierwelt in Diskussionen von gelehrten Mönchen in ihren Schreibstuben. Unter anderem führten Lesefehler zur Entstehung neuer Tierarten. Auch Landschaften wurden selten nach ihrem tatsächlichen Aussehen beschrieben, sondern nach "spirituellen" Gesichtspunkten.

Der den Menschen umgebende Raum wurde als ein "Buch der Natur" verstanden, das man lesen konnte. Hinter den Naturkatastrophen oder Naturwundern verbarg sich eine Botschaft für eine Gemeinschaft oder für den Einzelnen. Landschaften zu beschreiben, hieß damit meist auch, unterschiedliche Botschaften zu vermitteln.
Die Entdeckung der Gezeiten
Erst durch die Frage der richtigen Datierung von Ostern setzte sich ein Mönch in England im 8. Jahrhundert mit dem Phänomen der Gezeiten auseinander. Dabei wurden wissenschaftliche Kriterien entwickelt, die durchaus als Vorformen naturwissenschaftlicher Tätigkeit gesehen werden können.

Den physikalischen Erkenntnissen wurde allerdings erst dann Aufmerksamkeit zuteil, als sie mit der biblischen Topographie in Beziehung gesetzt werden konnte. Das Wissen um die Gezeiten selbst spielte keine Rolle. Lange Zeit blieb man der Meinung, die Gezeiten würden durch einen riesigen Abfluss, in dem das Wasser periodisch abrinnt, entstehen.
Was macht den Menschen aus?
Unterschiedliche Spezies bevölkerten in der Vorstellung des mittelalterlichen Menschen die Erde. Unter ihnen befanden sich auch Hundsköpfe - Lebewesen, die den Körper eines Menschen und den Kopf eines Hundes hatten. Da sie am Rande der Welt angesiedelt waren, erwartete man nicht, sie zu sehen.

Im 9. Jahrhundert berichtete allerdings ein Missionar, dass er sich nun in der Gesellschaft solcher Wesen befände. Da sie ihren Blick dem Himmel zuwenden und sprechen konnten, in Gesellschaft lebten und in Hütten wohnten, wurden sie als Menschen erachtet und missioniert.
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In einer gemeinsamen Studie untersuchten Brigitte Resl und ich das Verhältnis des (früh)mittelalterlichen Menschen zu den ihn umgebenden Naturräumen, zur Witterung und zur Tierwelt. Ein Buch zum Thema ist in Vorbereitung.
->   Projektbeschreibung von "Schreibungen der Natur im mittelalterlichen Europa"
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Mittelalterliche Geschichte und Cultural Studies
Aus der Sicht der Kulturwissenschaften greift das Projekt sehr weit in die Vergangenheit zurück. Die Konfrontation mit Fragestellungen und Themen der Cultural Studies mit den im Bereich der Geschichte des Mittelalters entwickelten Methoden sollte für beide Foschungsbereiche anregend sein.

Die Frühmittelalterforschung kann von einer Reihe neuer Modellvorstellungen und Betrachtensweisen profitieren, die jüngst von Ansatzpunkten der Cultural Studies aus formuliert wurden.
Texte konstituieren gesellschaftliche Realität
Frühmittelalterliche Heiligenleben, Texte aus dem monastischen Bereich und ähnliche Quellen wurden nicht als Widerspiegelungen objektiver Realität untersucht, sondern als Elemente des Austausches, durch den sich gesellschaftliche Realität erst konstituierte.

In der Verschriftlichung klösterlicher Welten wurden zugleich Kultur als Innen und Natur als Außen festgeschrieben. In der Verbindung von Ansätzen der mediävistischen Quellenforschung, postmoderner Textkritik, von Fragestellungen der Cultural Studies und der Umweltgeschichte lag der Zugang des Projektes.
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Kontakt
Maximilian Diesenberger: max.diesenberger@oeaw.ac.at
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01.01.2010