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Buch als Vorbild für den Terror?  
  Die Anschläge gegen die USA wurden vielfach als "unvorhersehbar" bezeichnet. Berndt Ostendorf, Kulturhistoriker am Amerika-Institut in München, stellt ein Buch vor, das vor 23 Jahren in den USA erschienen ist. Das rechtsradikale Werk weist erstaunliche Parallelen mit dem Ablauf der Ereignisse vom 11. September auf.  
Zivilisation gegen Dschihad?
Ein Gastbeitrag von Berndt Ostendorf

Die Zerstörung des World Trade Center und der Angriff auf das Pentagon durch islamische Extremisten wurde von vielen Kommentatoren mit Worten wie "unvorstellbar, unfassbar und unmenschlich" etikettiert. Damit war "dieser Angriff auf die westliche Zivilisation" sowohl als Wille wie auch als Vorstellung in die Zuständigkeit des Anderen verwiesen - personifiziert von Osama Bin Laden.

Trotz aller öffentlichen Beteuerungen, dass die Taten dieser muslimischen Extremisten nicht etwa der Beweis für eine Fehlkonstruktion im Islam sein können, sondern lediglich seine politische Instrumentalisierung durch Fanatiker darstellt, bleibt ein Rest an Verdacht im Raum stehen, dass diese Gräueltaten nur im Kontext "nichtwestlicher Kulturen" vorstellbar seien.
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Berndt Ostendorf ist Professor am Amerika Institut in München.
->   Amerika Institut
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Szenen wie aus den "Turner Diaries"

Wirklich? Mir kamen viele der Szenen, die vor unseren Augen abliefen, bekannt vor. Sie erinnerten mich an die "Turner Diaries", die 1978 von William Pierce, dem Guru der radikalen Rechten in den USA, unter dem Pseudonym Andrew Macdonald verfasst wurden.

Mit einer ISBN Nummer und, erstaunlicherweise, sogar mit einer Library of Congress Card versehen, erschien diese Hetzschrift bereits 1980 in zweiter Auflage, von der bis 1995 in den USA etwa 200.000 Kopien verkauft wurden.
Utopischer, rechtsradikaler Entwurf
Der fiktive Autor Andrew Macdonald alias William Pierce stellt sich in diesem utopischen Roman als Herausgeber der Tagebücher eines Earl Turner vor, die im Jahre 2091 bei Ausgrabungen in den Ruinen von Washington D.C., das heißt 100 Jahre nach der Revolution von 1991-3, von einem Professor Anderson gefunden wurden.

Im Jahr 1978 geschrieben, transportiert uns das Geschehen in das Jahr 2091, von wo aus in die Jahre der Tagebücher, 1991-1993, zurückgeblendet wird. Das ganze ist also ein utopischer Entwurf rechtsradikalen Wunschdenkens.
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Ziel: "Nationale Wiedergeburt"
In den Tagebüchern beschreibt ihr Autor, Earl Turner, die Vorbereitung und Durchführung einer umfassenden Revo-lution mit dem Ziel einer nationalen Wiedergeburt. Diese, so beginnt er das Tagebuch, sei ausgebrochen im Jahr 1991, nachdem der Kongress das sogenannte "Cohen Law" gegen den Waffenbesitz verabschiedet hatte. Darauf habe die von Juden dominierte Regierung (Zionist Occupation Government) 800.000 protestierende, waffentragende Amerikaner festgenommen und dabei ihren "grip on the people" überschätzt.
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Revolutionäre "Kollateralschäden"
Als Reaktion rotten sich aufrechte Amerikaner zur Verteidigung ihrer Verfassung, vor allem des zweiten Zusatzes, in revolutionäre Kader zusammen und setzen eine Revolution in Gang, die mit der erfolgreichen Zerstörung des alten "Systems" (ZOG) endet.

Die Vernichtung von Schwarzen, Juden und ihrer weißen, liberalen Sympathisanten, die er mit erkennbarem Genuss und mit sadistischen Details schildert, hinterlässt insgesamt etwa 60 Millionen Tote, die er als "Kollateralschaden" für die höhere Sache in Kauf nimmt.
"Neue Zeitrechnung"
Auch der 35-jährige Held und Autor des Tagebuchs Turner kommt bei der letzten und wichtigsten Mission, der Zerstörung des Pentagon und seiner Generäle um. Letztere stehen seiner Meinung nach im Dienst einer vom jüdischen Geld durchseuchten Rüstungsindustrie. Die erfolgreiche Mission stellt den Beginn einer von weißen Angelsachsen dominierten "neuen Zeitrechnung" dar.
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Märtyrer der Revolution
Earl Turner wird als Märtyrer der Revolution gefeiert und ist als Nationalheiliger in die Annalen eingegangen. Sein Credo "Only by making our beliefs into a living faith which guides us from day to day can we maintain the moral strength to overcome the obstacles and hardship which lie ahead" kommt einer korrekten Übersetzung von Dschihad durchaus nahe.
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Extremisten-"Bibel": Auch für Islamisten?
Die "Turner Diaries" gerieten 1995 kurzfristig ins Visier der Öffentlichkeit, als sie in Timothy McVeighs Besitz gefunden wurden. Sie hatten ihn inspiriert, das Bundesgebäude in Oklahoma in die Luft zu jagen, das seiner irrigen Meinung nach ein Hauptquartier der FBI beherbergte.

Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Hetzschrift, die weltweit in antisemitischen Kreisen kursierte, nicht nur ihm, sondern auch den islamistischen Extremisten für ihre Angriffe auf das WTC und das Pentagon einige zentrale Ideen gab. Denn dieser "Roman" enthält folgende explizite Szenen mit konkreten Handlungsanleitungen:
1) Zerstörung von New York City
Die Zerstörung von New York City als dem "jüdisch dominierten und verseuchten Zentrum des Weltkapitals." In einer apokalyptischen Szene wird erstaunlich wirklichkeitsnah und lustbetont beschrieben, wie die "100 Stockwerke der Wolkenkratzer" in sich zusammenstürzen. Das kann sich nur auf das World Trade Center beziehen, nur dies hat 100 Stockwerke.
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2) Anleitung zum Bombenbau
Eine explizite und detaillierte Anweisung zum Bau von Bomben, die für die Zerstörung großer Einrichtungen und Verwaltungsgebäude der Regierung, vor allem der FBI (auf die William Pierce verständlicherweise einen besonderen Hass hegt) geeignet sind, und gleichzeitig die Warnung, dass "hunderte von Menschen getötet werden." Dies wird als ebenso bedauerlicher aber unvermeidbarer Kollateralschaden verbucht. (Man darf sich erinnern, dass McVeigh mit diesen militärischen Begriffen auf die toten Kinder reagierte.)
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3) Vernichtung des Pentagon
Die Vernichtung des Pentagon durch eine Kamikazemission des Helden, der ein Flugzeug mit einer 60 Megatonnen Bombe "unter dem Radar der Sicherheitssysteme hindurch" aufs Pentagon steuert und dabei seinen eigenen Tod in Kauf nimmt.
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4) Zerstörung von Tel Aviv
Die völlige Zerstörung von Tel Aviv als eine aktive Hilfestellung "aufrechter Amerikaner" für die unterdrückten Palästinenser, die auf diese Weise das von Juden vereinnahmte Territorium wiedergewinnen.
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5) Psychogramm eines Terroristen
Er entwickelt ein Psychogramm, wie ein normaler und unscheinbarer, amerikanischer Bürger durch erlittenes Unrecht, gesellschaftliche Randständigkeit und rassisches Ressentiment zum Terroristen wird.
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6) Austieg in "revolutionärer" Organisation
Er liefert eine ausführliche Beschreibung der Initiation des Helden in den verschworenen, inneren Zirkel der Organisation der Revolutionäre und schildert, wie er von einem unüberlegten, heißblütigen Draufgänger zum kühl kalkulierenden, flexibel reagierenden Terroristen sozialisiert wird.

Es gibt in dieser geheimen Organisation regelmäßige "loyalty checks", um zu prüfen, ob ein Initiand belastbar ist und bei der Stange bleibt. Die letzte Erhellung (Illuminatio) über den Zweck ihres Tuns wird den Initianden erst spät zuteil, wenn sie in den innersten Zirkel übernommen werden. Jetzt wird ihm die motivierende, weltgeschichtliche Einsicht zuteil: "Wir sind wahrlich die Instrumente Gottes in der Ausführung seines Großen Planes."
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7) Moralische Legitimation
Er präsentiert eine moralische Legitimation der Selbstmordmission, durch die man zum Heiligen in der Erinnerung des rassisch-solidarischen Kollektivs werden kann. Der Märtyrer stellt sein Leben ganz in den Dienst der guten Sache, denn sie dient dem Erhalt der Gruppe und Rasse.
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8) Anleitung zur Eskalation
Eine genaue Anleitung, wie man die inhärente Paranoia des Systems eskalieren lassen kann: "Indem man das System durch Überraschungsangriffe destabilisiert" mittels "gleichzeitiger Angriffe auf unterschiedliche Ziele," damit durch die plötzliche Verunsicherung die Regierung gezwungen ist, die National Guard zur Verstärkung der Polizei zu bemühen.

"Ein wichtiges Ziel des politischen Terrors ist es, die Behörden zu repressiven Gegenmaßnahmen zu zwingen." Vor allem müsse das "Sicherheitsgefühl" der Bevölkerung zerstört werden, um zu bewirken "dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in ihr System ins Wanken gerät."
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9) Überlistung der High-Tech-Überwachung
Er gibt eine Anleitung, wie man, um einer elektronisch aufgerüsteten Überwachung zu entgehen, auf primitivere, aber effektive Technologien zurückgreifen kann.
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10) Ausweitung auf Europa
Schließlich schildert der Autor Macdonald im Nachwort, womöglich als Zugabe für die NPD, die Ausweitung der rassischen Revolution auf Europa und damit die Befreiung Deutschlands von "Horden von Gastarbeitern und ihren abartigen Nachkommen".
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Wie Sicherheitssysteme ausgetrickst ...
Die täglichen Eintragungen sind durchsetzt von spöttischen Reflexionen darüber, wie leicht es doch sei, die Sicherheitssysteme zu unterlaufen. Angesichts der mangelnden Disziplin des Militärs und der verlotterten Bürokratie des Bundes bedürfe es nur einer straff geführten, ideologisch verlässlichen Gruppe. Eine einfache und bewährte Methode sei es, jene klassischen Spuren zu vermeiden, auf die CIA und FBI fixiert seien.

So bewegen sich die Revolutionäre zur Not nicht in Autos, sondern auf Fahrrädern oder zu Fuß. Wer hält schon einen Radfahrer an? Die Sicherheitssysteme der Regierung seien vor allem durch die Inkompetenz schwarzer Angestellter, die von liberalen Juden in Positionen der Verantwortung geschleusten wurden, vollends unfähig geworden, um für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. "Das war unter J. Edgar Hoover noch anders."
... und Jugendliche ausgenützt werden können
Der Autor gibt Anleitungen, wie man Waffen-Depots anlegen kann und diese vor Entdeckung schützt. Weiter spekuliert er über die Möglichkeit, latente Ressentiments in der amerikanischen Bevölkerung gegen das Weltkapital, gegen die Juden und gegen Washington zu mobilisieren und in einer umfassenden Revolution zusammen zuschweißen.

Ohne es zu intendieren, habe das politische System und die seichte Unterhaltungskultur einen Teil der jugendlichen, weißen Bevölkerung in den Nihilismus verführt. Diese Jugendlichen ließen dann bei sinnloser Randale Luft ab. Diese Potentiale an Ressentiment müsse man strategisch ausnützen und diesen randständigen Jugendlichen wieder echte Aufgaben geben.
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Taxonomie der Anfälligkeiten
Dazu entwickelt er eine Taxonomie der Anfälligkeit oder Verführbarkeit diverser amerikanischer Gruppen für "extremen Radikalismus". Interessanterweise vertritt er die Meinung, dass man echte Überzeugungstäter nur unter gläubigen, fundamentalis-tischen Christen finden werde.

Liberale, libertär Gesinnte und Wirtschaftskon-servative kämen für eine solche radikale Aufgabe nicht in Frage. Prophetisch wird auch die Reaktion von Präsident Bush vorweggenommen, wenn der damalige Präsident "alle, die Terroristen unterstützen und ihnen Hilfestellung leisten, gnadenlos verfolgen will." Auf diese Drohung reagiert der überzeugte Revolutionär allerdings mit Hohn.
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Turner Diaries: Versponnen ...
In meiner Erinnerung haben 1995 die großen Tageszeitungen der West- und Ostküste William Pierce damals als einen durchgeknallten Spinner abgehakt und die "Turner Diaries" weitgehend ignoriert. Und das, obwohl sein Buch bis 1995 200.000 Mal verkauft und danach bei Amazon erhältlich blieb.
... oder Vorlage für Terroranschläge?
Bei der umfassenden Anamnese der Katastrophe von New York und Washing-ton D.C. wurden die Turner Diaries überhaupt nicht erwähnt. Es kann aber durchaus sein, dass die Vorstellbarkeit der Apokalypse von New York und Washington von diesem amerikanischen Vordenker der Rechten vorbereitet wurde.

Wenn man diesen "kranken" Text durchliest und seine grauenvollen, detaillierten Szenarios studiert, erkennt man mit einigem Schrecken die Wahlverwandtschaft im Weltbild von William Pierce und Osama Bin Laden.

Wenn es auch klar sein dürfte, dass der Angriff am 11. September 2001 von islamischen Extremisten durchgeführt wurde, wer will und kann sicher sein, ob es im Zeitalter der Internetvernetzung nicht schon längst zu einem transatlantischen Schulterschluss zwischen den antisemitischen und extremistischen Gruppen dieser Welt gekommen ist?
Biedermann unbehelligt
Eine letzte Beobachtung sei erlaubt: Es ist bemerkenswert, dass die Vereinigten Staaten ihren gesamten militärischen Apparat in Gang setzen, um den Brandstifter im "feindlichen" Terrain zu suchen, während der Biedermann unbehelligt von FBI oder den Medien in einer amerikanischen Kleinstadt seine Bücher schreibt und seine Netze spinnt - letzteres vor allem auch in Richtung eines Deutschland, das jedoch, wie dieser Hitler-Bewunderer und NPD-Freund einem ZDF Team bereitwillig mitteilte, noch "rassisch" erwachen muss.
 
 
 
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01.01.2010