News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Paul Virilio: Fernsehen als "Bestandteil des Attentats"  
  Der Philosoph und Medienkritiker Paul Virilio kritisiert in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die Rolle der Medien in der Berichterstattung über die Attentate von New York und Washington: Die Medien seien Teil des modernen Terrorismus, das Fernsehen sei ein Bestandteil der Attentate gewesen.  
Was am 11. September in New York und Washington geschehen ist, das ist laut Paul Virilio der erste erfolgreiche Anschlag des "Großen Terrorismus", wie er es nennt: Mit einem Minimum an Aufwand ein Höchstmaß an Zerstörung zu erreichen, genau das sei dessen Ziel.
Kritik an Medien: "Katastrophenfilm in Echtzeit"
Vor allem die Medien entgehen nicht der Kritik des Schriftstellers. Der Medienaspekt sei Teil des modernen Terrorismus: "Terroranschläge sind dank der audiovisuellen Medien ein Katastrophenfilm in Echtzeit."
...
Paul Virilio
Paul Virilio, geboren 1932 in Paris, studierte zunächst Architektur und Urbanistik. Der Schriftsteller ist heute bekannt als "Geschwindigkeitstheoretiker", Philosoph und Medienkritiker. Auf Deutsch erschienen sind u.a. "Rasender Stillstand", "Krieg und Fernsehen", "Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung" und "Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung". In "Krieg und Fernsehen" etwa beschreibt und analysiert Virilio kritisch die Fernsehbilder, die den Golfkrieg 1991 in jedes Wohnzimmer brachten: "Die Botschaft dieses Medienkrieges besteht weniger in der Information über die Realität der gegenwärtig stattfindenden Kämpfe als vielmehr in der Förderung der Möglichkeit zukünftiger Kriege."
->   Linkliste zu Paul Virilio
...
Die Wirklichkeit zitiert den Film
Nach der Hollywood-Erfindung des Genres Katastrophenfilm, das auf den Terrorismus zurückgehe, zitiere nun die Wirklichkeit den Film: "Die Attentate von New York und Washington waren von der Fiktion inspiriert."
Das Fernsehen als Bestandteil des Attentats
Virilio, bekennender Nicht-Besitzer eines Fernsehers, erklärt das Fernsehen zum Bestandteil des Attentats, dessen Bilder zum Ablauf gehören. "Der Katastrophenfilm der Wirklichkeit existiert nur dank CNN", erklärt er.
Indirekte Mitschuld der Medien
"Es gibt eine Mitschuld der Medien", so Virilio, "auch wenn sie eine indirekte ist". Das Fernsehen müsse zeigen, was passiert. Aber man werde sich "sehr unbequeme Fragen" stellen müssen "über das Verhältnis zwischen den Ereignissen und ihrer gleichzeitigen Übertragung in die ganze Welt."

Er selbst lebt ohne Fernseher. Das zieht jedoch keinen Mangel an Information nach sich, wie er meint: "Die simultane Abbildung einer Katastrophe hat nichts mit Information zu tun. Je intensiver gesendet wird, um so weniger weiß man im allgemeinen."
...
Weitere Interviews mit Paul Virilio
The Kosovo War Took Place In Orbital Space
Speed and Information: Cyberspace Alarm! (urspr. erschienen in Le Monde Diplomatique, August 1995)
Cyberwar, God And Television
Interview mit Fokus auf Verbindung zwischen Medien, Technologie und Kriegsführung
...
Rückkehr zum "Krieg der Fakten"
Dass die in allen Medien veröffentlichten Bilder der Anschläge keine Toten zeigen, erklärt der Philosoph als die Rückkehr zum "Krieg der Fakten und Wahrheiten".
Zahlen verdrängen Bilder
Was zähle, sei die Zahl der Toten - nicht das Bild von ihnen. "Ausschlaggebend ist das Ausmaß der Zerstörung. Die Quantität." Die Zahlen, meint Virilio, verdrängen die Bilder.
Anders als im Golfkrieg ...
Anders als etwa im Golfkrieg oder im Kosovo gehe es nicht mehr um die Bilder und ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung, so Virilio.

Damals habe die amerikanische Regierung befürchtet, dass ein einziger toter amerikanischer Soldat die Kriegsführung innenpolitisch in Frage stellen könnte.

Den hochtechnologisierten Golfkrieg vergleicht er mit einem Videospiel. Dagegen werde in Manhattan nun ein Krieg mit Menschen geführt, nicht mit Robotern.
"Der Krieg der Sterne ist verloren"
Zugleich konstatiert er den Bankrott des militärischen Denkens der Amerikaner "mit ihrem unfehlbaren Raketenabwehrsystem und der Satellitenüberwachung. Der Krieg der Sterne ist verloren."

Durch die Rückkehr des "Kriegers, der bereit ist, zu töten und sein Leben zu opfern" sieht Virilio alle Forschung und Investitionen im Bereich der Rüstungsindustrie ad absurdum geführt.
Erster Krieg der Globalisierung?
Dass der Schock der Attentate - auch für die Medien - heilsam sein wird, das glaubt Virilio nicht. Er befürchtet den ersten Krieg der Globalisierung: Der Anschlag auf das World Trade Center sei das erste Symptom eines Krieges zwischen den Armen und den Reichen, zwischen "den Supermächtigen und den Verdammten dieser Erde."
Weitere Artikel zu den Attentaten von New York und Washington:
->   Birgit Sauer: "Clash of Civilizations": Eine Theorie sucht ihre Empirie
->   Terror im TV: Ausnahmesituation oder Bilder-Krieg?
->   Berndt Ostendorf: Buch als Vorbild für den Terror?
->   Ulrich Körtner: Religion und Gewalt
->   Berndt Ostendorf: Hintergründe der US-Reaktionen auf den Terror
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010