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Neue Studie über Zwangsarbeit an "Göring-Werken"  
  Nach langjährigen Widerständen gab die VA Stahl AG vor drei Jahren eine Studie über Zwangsarbeit während der NS-Zeit in Auftrag. Nun ist das Buch über die ehemaligen "Hermann-Göring-Werke" erschienen.  
Forschung mit Hindernissen

Noch 1983 hatte die VOEST den Historikern Florian Freund und Bertrand Perz, die über den Einsatz von Zwangsarbeitern in "Hermann-Göring-Werken" forschen wollten, eine Abfuhr erteilt.

1998 hat das Linzer Unternehmen - in der Zwischenzeit hieß es VA Stahl AG - dann selbst einen Forschungsauftrag dafür gegeben. Im Böhlau-Verlag hat Projektleiter Oliver Rathkolb nun in zwei Bänden das Ergebnis des Projekts veröffentlicht.

Aus seiner Sicht soll die Studie dazu beitragen, ein neues, umfassendes Geschichtsverständnis über einen der zentralen Industriebetriebe der Zweiten Republik zu entwickeln. Die Studie wurde am Dienstag in Linz vom stellvertretenden VA Stahl-Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Eder und dem Herausgeber präsentiert.
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Rathkolb, Oliver (Hg.): NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der "Reichswerke Hermann Göring AG Berlin", 1938-1945. 2 Bände, zusammen 988 Seiten, Böhlau Wien, 950 Schilling, 117 Euro, ISBN 3-205-99417-5.
->   Das Buch im Böhlau Verlag
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Kooperation des Managements ...
Im Vorwort des Buches beschäftigt sich Rathkolb auch mit der Entstehungsgeschichte der Studie. Vor allem betont er die Bereitschaft des VA Stahl-Managements unter Leitung des jüngst tödlich verunglückten Peter Strahammer, sich mit der Vergangenheit des Unternehmens auseinander zu setzen und dies auch der Belegschaft des Unternehmens zu kommunizieren.
... eher als der Politik
Der Historiker hält aber auch ausdrücklich fest, dass die VA Stahl AG - und hier wiederum der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Wolfgang Eder - hinter den Kulissen schon früher als viele Entscheidungsträger der früheren SPÖ-ÖVP-Koalition und des Parlaments eine Versöhnungsfondslösung zur Zwangsarbeiterlösung vorgeschlagen hätte.

Und weiter: "Erst gegen Ende der letzten Großen Koalition stand vertraulich auch Dr. Maria Schaumayer als Regierungsbeauftragte fest, um nunmehr eine politische Lösung mit den Unternehmen rasch umzusetzen."
Quantitative Auswertung
Die jetzt veröffentlichte Studie nähert sich dem Thema aus mehreren Perspektiven. Einem Überblick von Michael John über das Ausmaß der NS-Industriepolitik und Zwangsarbeit im Raum Linz folgt eine umfangreiche Auswertung mehrerer EDV-mäßig erfasster Quellen.

Darunter sind auch jene Personalunterlagen, deren Auffindung am Werksgelände in Linz im Jahr 1998 für großes Aufsehen gesorgt hat. Insgesamt sind - ohne KZ-Häftlinge - knapp 40.000 Personen erfasst, darunter mehr als 22.000 Ausländer, so Michaela C. Schober.
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185 Millionen Schilling Entschädigung gezahlt
Die Voest Alpine AG und die VA Tech am Standort Linz haben insgesamt rund 185 Millionen Schilling (13,44 Mill. Euro) in den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter eingezahlt. Das berichtete der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Voest Alpine AG, Wolfgang Eder. Die Zahlung sei bereits Anfang Juli erfolgt, mit der Auszahlung der Gelder sei das Unternehmen nicht befasst. Insgesamt seien zum jetzigen Zeitpunkt 12.421 polnische
Zwangsarbeiter entschädigt worden, 7.369 tschechische und rund 4.000 Personen aus der Ukraine, erklärte der Historiker Oliver Rathkolb.
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Ökonomische Bedeutung, erzwungene Abtreibungen
Im letzten Kriegsjahr hat das Linzer Werk bis zu acht Prozent zum Bruttoregionalprodukt im Gau "Oberdonau" - Oberösterreich - beigetragen, schreibt Josef Moser. Die im Krieg verfügbaren Arbeitskräfte hätten dafür nicht gereicht: "Ohne Einsatz ausländischer Arbeitskräfte hätten diese Anlagen in Linz nicht gebaut und die Rüstungsgüter nicht produziert werden können."

In der Studie enthalten ist auch die von Gabriella Hauch erstellte erste Untersuchung zu Geburten und Abtreibungen unter Ostarbeiterinnen auf dem Gebiet des heutigen Österreich. Der Druck zu Abtreibungen auf diese Frauen habe nach Stalingrad deutlich zugenommen.

Bertrand Perz steuerte eine Analyse über die 7.000 in den Reichswerken Hermann Göring eingesetzten KZ-Häftlinge bei. Christian Gonsa beschäftigte sich mit der kleinen, in ihrer Bedeutung aber signifikanten Gruppe der griechischen Arbeiter.
Qualitative Interviews
Der komplette zweite Band ist als Kontrapunkt zur Datenanalyse Schobers zu sehen. Karl Fallend führte dafür insgesamt 37 Interviews mit Zeitzeugen in Tschechien, Polen, der Ukraine, Moldawien und Italien. Während Schober sich an objektiven Daten orientiert hat, hat Fallend versucht, "durch psychoanalytisch orientierte Erinnerungsinterviews psychische Realitäten zu erfassen".

Dementsprechend stehen in diesem zweiten Band auch subjektive Sichtweisen im Vordergrund. Thema sind dabei nicht nur die Erlebnisse in Linz, sondern auch der familiäre Hintergrund der Betroffenen, der "gebrochene Lebensentwurf" sowie die Jahre nach der nationalsozialistischen Unterdrückung.
 
 
 
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01.01.2010