News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Michel Foucault - Denker der Subversion  
  Der französische Philosoph Michel Foucault zählt zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts: als Philosoph, als Psychopathologe, als Theoretiker der Macht und als Denker der Subversion. Am 15. Oktober wäre er 75 Jahre alt geworden.  
"Die Vernunft ist eine blutige Macht"
In seinen Werken kritisierte Foucault die Tradition des europäischen Rationalismus. Er warf dieser Denktradition vor, eine Geschichte der Ausschließungen produziert zu haben, wie sie etwa in der Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn zum Ausdruck kommt.

"Die Vernunft ist eine blutige Macht" war ein geflügeltes Wort, das auch von dissidenten Gruppen wie den Stadtindianern in Bologna und den Autonomen in Berlin gerne zitiert wurde.
Anders Denken - Ende des "Menschen"
"Wie ein Fisch im Wasser" tummelte sich Foucault zwischen verschiedenen Wissenschaften. In seinen wichtigsten Schriften wie "Archäologie des Wissens", Wahnsinn und Gesellschaft", "Überwachen und Strafen" oder "Sexualität und Wahrheit" ging es ihm darum, erstarrte, wissenschaftliche Lehrmeinungen Schicht für Schicht freizulegen.

Dies war die Voraussetzung für ein experimentelles Philosophieren, das Foucault als "anders denken" bezeichnete. Dieses alternative Denken gipfelte in der Behauptung vom Ende des Menschen.

"In unserer Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken" - postulierte Foucault - "der Mensch würde verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand". Diese Vorstellung von Foucault zeichnete jahrzehntelang seine Rezeption - vornehmlich in Deutschland - aus.
Kritik der Herrschafts- und Machtbeziehungen
Übersehen wurde dabei, dass es noch einen "anderen" Foucault gibt, der sich ausführlich mit gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtbeziehungen beschäftigt hat. Dieser teilweise wenig bekannte Foucault stand nun im Zentrum einer Konferenz in Frankfurt am Main, die vom Institut für Sozialforschung - gleichsam der Kommandozentrale der Kritischen Theorie - und dem Suhrkamp Verlag veranstaltet wurde.

Die Absicht der Konferenz lautete - wie es bereits der Titel "Zwischenbilanz einer Rezeption" ausdrückte - die bisherigen Interpretationen seiner Schriften in Frage zu stellen und Möglichkeiten auszuloten, seine Analysen auf aktuelle Phänomene der New Economy anzuwenden.
->   Institut für Sozialforschung, Frankfurt
...
Kurzbiographie
Am 15. Oktober 1926 wird Paul-Michel Foucault in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren. Er erlangt Diplome in Psychologie, Philosophie und Psychopathologie und wird Professor in Clermont Ferrand und am Collège de France in Paris. Er stirbt am 25. Juni 1984 in der französischen Hauptstadt.
->   Mehr über die Biographie Foucaults
...
->   Die Foucault-Biographie von Didier Eribon
Postmoderner vs. materialistischer Foucault?
So bekundete der ehemalige Habermas-Assistent Axel Honneth, nunmehriger Direktor des Instituts für Sozialforschung, seine Abneigung gegen die Einordnung Foucaults als postmoderner Paradedenker und betonte vielmehr den materialen Gehalt seiner Philosophie.

Darunter verstand er die zahlreichen empirischen Analysen Foucaults, die für die Philosophie, Geschichtswissenschaft, Medizingeschichte, Kriminologie, Kultur-und Kunstgeschichte äußerst anregend waren.
Machtverhältnisse zum Tanzen bringen ...
Im Mittelpunkt der Konferenz standen die Ausführungen von Foucault zum Phänomen der Macht, die ihn zeit seines Lebens beschäftigten. "In meiner Arbeit versuche ich", so schrieb er -, "die versteinerten Machtverhältnisse zum Tanzen zu bringen".

Foucault war nicht so naiv zu glauben, dass, wie der Marxismus behauptete, nur eine Form der Macht in Gestalt des Kapitalismus existiere. Ihn faszinierten vielmehr die unterschiedlichen Machtverhältnisse, in denen eine bestimmte Gruppe Macht über andere ausübt.
... ohne Sakralisierung des Sozialen
Das bedeutet jedoch nicht - so der Historiker und einer der engsten Freunde Foucaults - dass der Einzelne nur das Produkt bestimmter Machtformationen darstellt. In seinem Vortrag wies Veyne immer wieder darauf hin, dass die marxistische Verabsolutierung der kapitalistischen Herrschaftsformation zu kurz greife.

"Wir müssen weg von dieser Sakralisierung des Sozialen" - so betonte der Historiker - "die uns als einzige Realitätsinstanz erscheint und auch den Aspekt der Freiheit bedenken, der uns bleibt."
...
Literatur
Die wichtigsten Schriften von Michel Foucault wie "Archäologie des Wissens", "Überwachen und Strafen", "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Sexualität und Wahrheit 2" sind im Suhrkamp Verlag erschienen.
->   Foucault im Suhrkamp Verlag
...
Foucault und New Economy
Ein eigener Workshop befasste sich mit der Thematik, ob die Machttheorien Foucaults Deutungsmöglichkeiten für aktuelle Phänomene wie die "new economy" anbieten. Die Meinungen waren unterschiedlich. Kritiker wie die amerikanische Philosophin Nancy Fraser warfen Foucault vor, hoffnungslos veraltet zu sein.

Dagegen sah Ulrich Bröckling vom Institut für Soziologie der Universität Freiburg durchaus Möglichkeiten, Strategien, wie sie heute im Management üblich sind, mit Konzepten von Foucault in Verbindung zu bringen.

Dabei spielt der Begriff der Regierung eine wichtige Rolle, die auf einer wesentlichen Weiterentwicklung und Korrektur von Foucaults Machtanalysen der späten 1970erJahre zurückgeht. Bis dahin hatte Foucault - in Anschluss an Friedrich Nietzsche - Macht mit den Begriffen Kampf, Krieg und Konfrontation beschrieben und dabei die Aspekte der Führung kaum beachtet.
"Regieren": Angewandt in New Economy
Der Begriff des Regierens ermöglichte es Foucault, Machtbeziehungen unter dem Aspekt der Führung zu untersuchen, die nunmehr von Soziologen in bezug auf das Management der "New Economy" angewendet werden. Eine Möglichkeit, die mittlerweile auch in Deutschland und Österreich Verbreitung gefunden hat, ist das Verfahren des so genannten 360 Grad Feedbacks.

Es sind dies - so der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling - Fragebögen, die in Unternehmen eingesetzt werden und Mitarbeiter und Vorgesetzte motivieren sollen, einander zu bewerten. Gefragt wird dabei Kooperationsfähigkeit, Teamfähigkeit und fachliche Kompetenz.

Bröckling bezeichnete dieses Modell als demokratisiertes "Panopticon".
...
Panopticon
Foucault hatte in seinen Untersuchungen über das Gefängnis die Kontrollarchitektur des im 18. Jahrhundert lebenden englischen Philosophen Jeremy Bentham angeführt. In diesem Panopticon sind Einzelzellen kreisförmig um einen Beobachtungsturm angelegt, von dem der Tagesablauf der Häftlinge überwacht werden kann. Bentham, der vom Utilitarismus, vom Nützlichkeitsdenken überzeugt war, wollte diesen "panoptischen Mechanismus" auch an Schulen. Hospitälern, Fabriken und Armenhäusern anwenden, also überall dort, wo es Menschen zu verwahren galt.
...
Disziplinargesellschaften
Das Modell des Panopticon ist für Foucault der Kern der Disziplinargesellschaften. Überträgt man diesen "panoptischen Blick" auf das Management der New Economy zeigt sich ein eigenartiges Phänomen: Hier herrscht nicht mehr der hierarchische Blick des Kontrolleurs auf die Kontrollierten, sondern das Prinzip der Reziprozität, das es den Menschen erlaubt, ihre eigene Potentiale zu entfalten und zu optimieren, um in den Konkurrenzverhältnissen bestehen zu können.
Organisationsformen der New Economy
Die wechselseitigen Prüfungs- und Bewertungsprozesse der "New Economy" lassen sich nicht mehr in das Schema "ausbeutende Unternehmer und ausgebeutete Arbeitnehmer" pressen, meint der Wirtschaftswissenschaftler Manfred Moldaschl aus Chemnitz.

Hilfreich für das Verständnis der Organisationsformen in der "New Economy" sind vielmehr die subtilen Analysen, wie sie Foucault in seinen Untersuchungen vorgenommen hat. Sie vermeiden das Schwarz-Weißdenken und wägen in jedem Einzelfall Vor- und Nachteile ab.

Foucault rät dazu, diese Entwicklungen nicht allzu positiv zu sehen; er zeigt die Schattenseiten der Machtverhältnisse auf, die dahin gehen, jegliche Solidaritätsverhältnisse im Arbeitsprozess zu unterbinden.
Einverleibung eines extremistischen Philosophen
Trotz der Vielfalt an Vorträgen war ein Aspekt bei der Foucault Konferenz nicht zu übersehen, nämlich die Abhängigkeit vom Denken der Frankfurter Schule, wie sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vertraten.

Der extremistische Philosoph, der sich nicht scheute, an politischen Demonstrationen teilzunehmen, der Homosexuelle, der an Aids starb, der Drogenkonsument, der LSD nahm, um sein "anderes Denken" zu erweitern, der gewalttätige Philosoph, der in Spanien Polizisten attackierte, dieser radikale Philosoph wurde domestiziert und in die Ahnenreihe der Frankfurter Schule einverleibt.
...
Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen (11.10)/science.orf.at
->   Österreich 1
...
->   Wörterbuch zum Denken Foucaults (engl.)
->   Mehrere Texte zu Diskurstheorie und Foucault
->   Ultimative Bibliographie zu Foucault
->   Weitere Links zu Michel Foucault
->   Michel Foucault: French Philosopher
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010