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Hyperaktivität: Hilft die umstrittene "Psychopille"?  
  Hyperaktive Kinder können nicht stillsitzen, springen ständig auf und gehen ihrer Umgebung häufig gehörig auf die Nerven. Eine Form der medikamentösen Behandlung ist das Arzneimittel Ritalin. Das jedoch ist immer wieder in die Diskussion geraten, da es eine Art Amphetamin enthält.  
Etwa drei bis fünf Prozent aller Kinder in Österreich leiden an Aufmerksamkeitsstörungen bzw. am so genannten hyperkinetischen Syndrom (ADHS). Buben sind davon deutlich häufiger betroffen als Mädchen.
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ADHS - Ursachen und Symptome
Strenggenommen unterscheidet man bei ADHS zwischen drei verschiedenen Formen: 1. ADHS, bei der Unaufmerksamkeit vorherrschendes Charakteristikum ist, 2. ADHS, bei der Hyperaktivität überwiegt und 3. eine Mischform aus beidem.

Als Ursache der so genannten ADHS gilt mittlerweile eine biochemische Funktionsstörung bei der Signalübermittlung im Gehirn: Vermutlich wirken im Bereich der Schaltstellen von Hirnzellen, den so genannten Synapsen, die verantwortlichen Überträgerstoffe (Neurotransmitter) nicht optimal. Experten gehen davon aus, dass eine noch nicht genau bekannte genetische Veranlagung der Auslöser ist.

Symptome sind Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Überaktivität, Störungen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sowie Gedächtnisbildung. Seltener treten auf motorische Hyperaktivität, hohe Erregbarkeit, mangelhafte emotionale Steuerung sowie dissoziales Verhalten.
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Medikament soll Aufmerksamkeitsspanne erhöhen
Um die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern mit ADHS in den Griff zu bekommen, verordnen viele Ärzte das Medikament Ritalin, das genauso wie Amphetamine und Kokain auf das Gehirn einwirkt, indem es die Konzentration des freigesetzten Neurotransmitters Dopamin verändert.

Die Wirkung von Ritalin bei Kindern mit einer echten Hyperaktivitätsstörung wird auf einen paradoxerweise beruhigenden Effekt der sonst an sich aufputschenden Wirksubstanz Methylphenidat zurück geführt.
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Ritalin und Dopamin
Das Medikament Ritalin, hergestellt vom Schweizer Pharmariesen Novartis, ist eigentlich ein Aufputschmittel. Ritalin enthält Methylphenidat, einen Amphetamin-Verwandten, und fällt daher unter das Betäubungsmittelgesetz. In niedrigen Dosen angewendet wirkt Ritalin bei Kindern allerdings seltsamerweise beruhigend und führt zu einer besseren Konzentration. Bei höherdosiertem Gebrauch als Amphetamin wirkt es allerdings antriebssteigernd. Bei hochdosiertem Missbrauch als Droge kann das Medikament zu psychotischen Zuständen führen. Weitere mögliche Nebenwirkungen sind Erbrechen, Schweißausbrüche, Kopfschmerzen, Störungen des Herzrhythmus und Trockenheit der Schleimhäute.

Ritalin: Der "Beipackzettel"

Dopamin ist ein Neurotransmitter (Botenstoff), mit dem im Gehirn bzw. in den Nerven Impulse, also Informationen übertragen werden. Dopaminmangel führt zur Entstehung der Parkinsonschen Krankheit: Ist zu wenig Dopamin in Bereichen des Gehirns vorhanden, wird die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen gestört. Weiterhin wird vermutet, dass der Botenstoff bei psychiatrischen Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie eine Rolle spielt.

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Wirkprinzip bisher nicht genau bekannt
Das Wirkprinzip des Medikaments haben Mediziner allerdings noch nicht ganz entschlüsselt. Wahrscheinlich steigert Methylphenidat die Wirkung der Nervenbotenstoffe Dopamin und Noradrendalin im Gehirn.

Genau diese Weiterleitung ist bei den betroffenen Kindern vermutlich gestört und wird durch Ritalin verbessert. Ihre Aufmerksamkeitsspanne liegt deutlich höher, sie sind ruhiger und können sich besser konzentrieren.
Konsum von Ritalin bei Kindern drastisch gestiegen
Das deutsche Bundesgesundheitsministerium hat nun jüngst den drastisch gestiegenen Konsum des Psychomittels bei Kindern moniert.

Der Hintergrund: Seit 1994 hat sich der Verbrauch von Ritalin und vergleichbaren Präparaten etwa verzehnfacht, allein im Jahr 2000 schluckten in Deutschland doppelt so viele Kinder wie im Vorjahr den Amphetaminabkömmling, der unter das Betäubungsmittelgesetz fällt.
USA: Medikament als "Party-Droge"
Mitte der 90er Jahre wurde zudem bekannt, dass in den USA das Medikament als Party-Droge die Runde machte: In pulverisierter Form schnupften die Schulkinder es wie Kokain.

Auch die Wiener Psychologin Evelyn Patzak kennt die Probleme um das Arzneimittel. Seit 40 Jahren gebe es Ritalin bereits, und immer wieder sei es in die Diskussion geraten, erklärte sie gegenüber science.orf.at.
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Verein Adapt hilft Betroffenen
Evelyn Patzak ist wissenschaftliche Beraterin des gemeinnützigen Vereins Adapt, der von Eltern, Lehrern und Therapeuten gegründet wurde, um von ADHS Betroffenen zu helfen und sie bzw. ihre Familien zu beraten.
->   Gemeinnütziger Verein Adapt
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Ritalin nur bei großer Beeinträchtigung für das Kind
Doch ob sie das Medikament empfiehlt, hängt vom Grad der Beeinträchtigung ab: "Wenn die Beeinträchtigung durch die Störung für das Kind riesengroß ist, dann empfehle ich Ritalin zur Verschreibung."

Manche Kinder seien so stark von ADHS betroffen, dass sie in keine normale Schule mehr gehen könnten, dass sie für ihre Umgebung zu einer großen Belastung werden, erläutert sie solche Härtefälle.
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Kinder als Außenseiter
Kinder mit ADHS leiden häufig extrem unter ihrer Störung. Sie werden wegen ihres Verhaltens zu Außenseitern, haben wenig Freunde und landen nicht selten - wenn ADHS nicht diagnostiziert wurde oder Lehrer und Eltern überfordert sind - in Sonderschulen.
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Problem: Die richtige Diagnose
Die Fachleute warnen allerdings vor einer bedenkenlosen Anwendung des Arzneimittels. Ein Problem ist offenbar die Diagnose von ADHS: "Nicht jedes unruhige, lebhafte Kind ist hyperaktiv", erklärt Michael Schulte-Markwort, stellvertretender Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Hamburger Uniklinik .

Doch viele Kinderärzte oder auch -psychiater seien mit einer exakten Diagnose schlicht überfordert - und griffen möglicherweise auch bei anders gearteten Störungen vorschnell zum Ritalin-Rezept. Aufmerksamkeitsstörungen seien eine "Modediagnose", so der Experte.
Kurzfristige Nebenwirkungen ...
Dennoch ist er überzeugt, dass Ritalin in manchen Fällen nötig ist, um andere Therapien überhaupt erst zu ermöglichen. Kurzfristige Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Stimmungsschwankungen müssen bis zu zehn Prozent der kleinen Patienten dafür in Kauf nehmen.
... aber keine Langzeitfolgen bekannt
Negative Langzeitfolgen hat das seit Jahrzehnten angewandte Medikament hingegen nicht - im Gegenteil: Eine US-Studie zeigte laut Schulte-Markwort jüngst, dass "Suchtkarrieren" bei ehemaligen ADHS-Kindern, die nicht mit Ritalin behandelt wurden, im späteren Leben häufiger vorkamen als bei ihren medikamentös behandelten Schicksalsgenossen.

Das meinte auch Waltraut Kruse von der Universitätsklinik Aachen kürzlich auf einem Ärztekongress in Deutschland: Die Behandlung von Überaktivität mit Medikamenten wie Ritalin führe nicht zu späterer Abhängigkeit, sagte Kruse. Dies sei in vielen übergreifenden Studien bewiesen worden.
Methylphenidat: Nur ein Therapiebestandteil
Im Übrigen ist in den Augen der meisten Fachleute Methylphendidat bei ADHS nur ein möglicher Baustein in einem umfassenden Behandlungskonzept.

Ausdauer- und Konzentrationstraining, Entspannungsübungen, ein von den Eltern konsequent strukturierter Alltag mit klaren Anweisungen gehören ebenfalls zum Behandlungsprogramm.
 
 
 
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01.01.2010