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Kulturpolitik und Kulturtransfer in Brasilien  
  Ein Forschungsprojekt im Rahmen der "Firnberg-Stellen" analysiert die Kulturpolitik des größten lateinamerikanischen Staates von 1930 bis in die fünfziger Jahre. Dabei werden vor allem die Einflüsse der USA auf die Kultur berücksichtigt.  
Strategien zur Konfliktvermeidung
Politische und ökonomische Interessen wurden und werden häufig mit kulturpolitischen Strategien verbunden, die ihre Effizienz steigern, konfliktvermeidend und gesellschaftlich harmonisierend wirken sollen.

Solche Strategien spielten für Brasilien ab den dreißiger Jahren eine große Rolle. Sie dienten dem Staatspräsidenten Getulio Vargas (1930-1945 und 1951-1954), der das Land von 1937 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs diktatorisch regierte, zur Modernisierung, zur Nationalstaatsbildung und zur Konsolidierung von Macht nach innen und außen.
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Hertha Firnberg-Stellen
Anfang Oktober wurden von Wissenschaftsministerin Elisabeth Gehrer die diesjährigen Stellen im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programmes vergeben. Mit diesem, vom Wissenschaftsfonds (FWF) durchgeführten Programm, können neun Frauen ihr dreijähriges Forschungsprojekt beginnen. In Kooperation mit dem FWF stellt "science.orf.at¿ in lockerer Folge die Forschungsprojekte in Originalbeiträgen der Wissenschaftlerinnen vor. Den folgenden Text hat Dr. Ursula Prutsch vom Institut für Geschichte der Universität Wien verfasst.
->   Wissenschaftsfonds (FWF)
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Die Konstruktion einer brasilianischen Nation
Ein Beitrag von Ursula Prutsch

Im Forschungsprojekt wird auf der Basis des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Hintergrundes der dreißiger bis fünfziger Jahre der Aufbau einer Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik des populistischen Regimes und seiner Trägerschichten erarbeitet.
"Know how" aus Europa
Mittels eines umfassenden Verwaltungsapparates, unter Einbeziehung von Universitäten und Schulen, sowie durch sozialpolitische Maßnahmen sollte die Gesellschaft auch im "Hinterland" dieses Staates in der Größe Europas erfasst, kontrolliert und verändert werden.

Dafür holte sich Brasilien trotz verstärkter antisemitischer Einwanderungspolitik technisches und intellektuelles "know how" aus Europa.
Der Mythos des Präsidenten
Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, vor faschistischen und faschistoiden Systemen, darunter Claude Levy-Strauss und Österreicher wie Rudolf Aladar Metall und Otto Maria Karpfen, bereicherten bildungs- und sozialpolitische Institutionen.

Gleichzeitig bediente sich Brasilien deutscher und italienischer faschistischer Vorbilder für den Aufbau eines effizienten Presse- und Propagandaapparates, der Patriotismus propagieren und den Mythos des Präsidenten als "gütige, paternalistische Führerfigur" zu verbreiten suchte.
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Symbolische Politik
Die Choreographie von Festen, Aufmärschen und Feiern lehnte sich an faschistische Vorbilder an; neue Medientechnologien wie Radio und Film wurden massiv zur Konstruktion von Identität (der "Brasilidade") eingesetzt. Symbolische Politik und Medienpopulismus verschmolzen miteinander. Nationale Mythen, Symbole und Riten, die Rolle von Samba und Karneval in diesem Kontext werden im Projekt hinsichtlich ihrer Herkunft und Funktion analysiert.
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Die Rolle der USA im Kulturtransfer
Eine Leitfrage stellt die Dimension des Einflusses der USA auf kulturpolitischer Ebene dar. Die US-amerikanische Lateinamerikapolitik der dreißiger und vierziger Jahre ist mit der Person Nelson Rockefellers verbunden, der durch massive Technologie- und Wirtschaftshilfe den Lebensstandard in Lateinamerika heben und die Zahl potentieller KonsumentInnen für amerikanische Waren erhöhen wollte.
Amerikanische Werte
Die USA zielten zudem Ende der dreißiger Jahre darauf, das deutsche Reich als wichtigen Handelspartner Brasiliens zu verdrängen und Einflüsse faschistischer und faschistoider Ideologien auch durch die Vermittlung amerikanischer Werte zu unterbinden. Schließlich gelang es ihnen, das rohstoffreiche Brasilien 1942 als Kriegsalliierten zu gewinnen.
Orson Welles und Walt Disney
Auch die USA verbanden ökonomische und politische Interessen mit Kulturpolitik: dazu zählten Presse, Radio, Unterhaltungs- und Lehrfilme, sowie Austauschprogramme von Künstlern und Wissenschaftern. Orson Welles und Walt Disney kam symbolische Funktion als Kulturbotschafter zu.

In diesem Zusammenhang wird auch der Export brasilianischer Kultur in die USA berücksichtigt, der sich vor allem im Bereich der Musik manifestierte.
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Verarbeitung der Einflüsse
Im Forschungsvorhaben wird nicht nur die Kulturpolitik Brasiliens analysiert, sondern auch der Frage nachgegangen, wie europäische und US-amerikanische Einflüsse in Brasilien rezipiert und verarbeitet wurden. "Amerikanisierten" sie Brasilien oder konnte sich der Staat den massiven ökonomischen und symbolischen Einfluß der USA zumindest teilweise zunutze machen? Um diese Fragen klären zu können, wird umfangreiches, bislang nicht eingesehenes Material aus brasilianischen und US-amerikanischen Archiven benützt.
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Forschungsperspektiven
Die Hertha Firnberg-Stelle ermöglicht drei Jahre lang beste Forschungsbedingungen und gleichzeitig die temporäre Einbindung in ein Institut. Sie ist dem "Lehrstuhl für außereuropäische Geschichte" am Institut für Geschichte der Universität Wien zugeordnet.

Das Projekt soll in einen - im Planungsstadium stehenden - Forschungsschwerpunkt eingebettet werden, der sich über Brasilien hinausgehend mit dem atlantischen Raum und den vielschichtigen transatlantischen Beziehungen - zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre sowie zwischen Europa und Afrika in historischer, außenpolitischer, kulturwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Hinsicht - auseinandersetzen wird.
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Ursula Prutsch studierte Geschichte an der Universität Graz und beschäftigte sich bereits in ihrer Diplomarbeit mit Südamerika. Seit ihrer Promotion 1993 hat sie in mehreren FWF-Projekten mitgearbeitet und ist u.a. Mitglied in der Gesellschaft für Exilforschung.
->   Ursula Prutsch: Plädoyer für die Geisteswissenschaften
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Lesen Sie mehr über die Hertha-Firnberg-Stellen in science.orf.at:
->   Verborgene Lebewesen des Meerwassers
->   Digitalisierung von Wittgensteins Nachlass
 
 
 
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01.01.2010