News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Wissenschaftlich getarntes Morden  
  Ausmerzen statt heilen, töten statt pflegen - in der NS-Zeit wurden die Prinzipien der Medizin auf den Kopf gestellt. Jahrzehntelang wurde vertuscht, selbst 60 Jahre danach ist noch vieles unbekannt. Der deutsche Historiker Ernst Klee legt jetzt dar, wie einzelne Wissenschaftler und ganze Forschungseinrichtungen gedeckt durch das NS-Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen und davon profitierten.  
Diagnosen im Namen des Rassenwahns
Mit pseudowissenschaftlichen Methoden wurden bereits Neugeborene in den Datenbanken des Volksgesundheitsamtes erfasst. Der rassische Normenkatalog beruhte auf ideologischen, nicht medizinischen Kriterien.

Wer nicht gesund, stark und leistungsfähig war, wurde zum öffentlichen Feindbild gemacht: Er galt als "erbkrank", "Volksschädling", "unwertes Leben".

Die Ärzte übernahmen eine neue Rolle. Sie selektierten zwischen stark und schwach, gesund und krank, Herrenmensch und Untermensch.
Sichten und Vernichten
Alte, Kranke, Behinderte, Waisen, schwer erziehbare Jugendliche, Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle - Menschen, die in Anstalten eingewiesen wurden, sie alle wurden von Ärzten ausgemustert und an die Kanzlei des Führers gemeldet. In Berlin wurde dann am Schreibtisch über Leben und Tod entschieden.

Die Folge: Im Rahmen der verschiedenen Euthanasieprogramme wurden mehrere hunderttausend Menschen vergast, verhungert, vergiftet.

Wer nicht ermordet wurde, blieb trotzdem in der Maschinerie der Rassenfanatiker. Mehrere hunderttausend Psychiatriepatienten wurden zwangssterilisiert. Die Unfruchtbarmachung erfolgte meist mit Röntgenstrahlen, die schwerwiegende gesundheitliche Leiden zur Folge hatten.
Gefährlicher Krankenhausaufenthalt
Für jeden konnte in diesen Jahren ein Krankenhausaufenthalt höchste Gefahr bedeuten. Ernst Klee hat in seinem neuen Buch einen Fall recherchiert.

Eine Schwangere wird in der Frauenklinik untersucht. Man stellt ein Augenleiden fest. Sie wird auf die Augenklinik verlegt. Dort diagnostiziert der Klinikleiter eine "erbliche Pigment-Entartung der Netzhaut".

Das Wort "erblich" genügte, um Gefahr für den "gesunden Volkskörper" zu wittern. Die Frau muss abtreiben und wird sterilisiert.
...

Das Buch von Ernst Klee
Ernst Klee
Deutsche Medizin im Dritten Reich
448 Seiten; gebunden
erschienen im Fischer-Verlag
ISBN: 3-10-039310-4
Preis: 344 S
->   Fischer Verlag
...
Medizin ohne Menschlichkeit
Doch Mediziner selektierten nicht nur im Rahmen des Rassenwahns, sie missbrauchten die für die Vernichtung Selektierten auch für abartige Versuche.

Erstmals experimentierten Ärzte straflos am Menschen: Patienten wurden mit Krankheitserregern infiziert, bei Operationsversuchen verstümmelt oder mit unerprobten Medikamenten und Impfungen vergiftet.
...
Aktiv im KZ
Hunderte Ärzte waren an diesen grausamen Experimenten beteiligt. Mediziner nutzten sogar die Vernichtungsmaschinerie des Holocaust. Der Auschwitz-Arzt Mengele war kein Einzelfall. Im KZ Dachau führten Ärzte Kälteversuche durch. Häftlinge kamen in Bottiche mit eiskaltem Wasser. Sie starben nach sechs bis acht Stunden, als die Körpertemperatur auf 25 Grad abgefallen war.
...
Vergast für die Forschung
Forscher wie der deutsche Arzt Julius Hallervorden "bestellten" sich Gehirne in Euthanasieanstalten. In der Gaskammer wurden "wissenschaftlich interessante" Kinder ermordet. Keiner musste warten, bis sie eines natürlichen Todes starben.

Die Gehirne der Opfer wurden von den Wissenschaftlern entnommen, untersucht und als Präparate aufbewahrt. Ähnlich wie der Spiegelgrund-Arzt Heinrich Gross verfügte auch Hallervorden über eine Sammlung von Gehirnen. Ebenso wie Gross machte auch Hallervorden nach 1945 damit Karriere.
Karriere nach 1945
Hinter vielen Ärzten standen große Institutionen. Hinter Hallervorden etwa das renommierte Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung. Sowohl Forscher als auch Institute setzten nach 1945 ihre Arbeit fort, als wäre nichts gewesen.

Entnazifizierungen fanden kaum statt, denn nach der Vertreibung und Vernichtung jüdischer Mediziner herrschte Ärztemangel. Viele Ärzte waren nur allzu bereit, ihre Kollegen zu entlasten oder sie erklärten schwer belastete Täter für prozessunfähig.

Die meisten entgingen so der Strafverfolgung bei den Nürnberger Ärzteprozessen und den Euthanasie-Verfahren der Bundesrepublik. Die Karrieren konnten fortgesetzt werden, alte Seilschaften blieben bestehen.
Verdrängte Schuld
Über 50 Jahre blockte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, später die Max-Planck-Gesellschaft, Recherchen zur Nazi-Vergangenheit pauschal ab.

Die Arbeiten von Klee und anderer Historiker, die auf diesen Umstand verwiesen, wurden dafür als unseriös abgetan. Erst seit 1997 ist auch die Max-Planck-Gesellschaft bereit, sich der Geschichte zu stellen.

Tom Matzek/Modern Times
->   Max-Planck-Gesellschaft/Historikerkommission
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010