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Klimaerwärmung: Erste genetische Anpassung entdeckt  
  Dass es in vielen Regionen der Erde in den letzten Jahrzehnten messbar und spürbar wärmer geworden ist, bezweifelt kaum noch jemand. Abseits der Diskussionen um die Ursachen eines wärmeren Weltklimas zeigen sich allerdings bereits erste direkte Effekte auf die Tierwelt: Forscher entdeckten bei einer Mückenart eine genetische Anpassung an die Klimaänderung.  
Auch im Osten Kanadas ist die Temperatur in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen. Eine dort lebende Mückenart namens Wyeomyia smithii richtet sich primär nach der Tageslänge, um sich auf den Winterschlaf vorzubereiten. Dieses Programm liegt den Mücken in den Genen.

Doch William Bradshaw und Christina Holzapfel von der University of Oregon berichten jetzt in der neuen Ausgabe der "Proceedings of the National Academy of Sciences", dass die Evolution dieses Programm in einem sehr kurzem Zeitraum verändert hat und die Mücken nun später mit ihrem Winterschlaf beginnen.

Dies ist laut den Wissenschaftlern der erste dokumentierte Fall einer genetischen Anpassung eines Organismus an das global veränderte Klima.
->   Artikel in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (kostenpflichtig)
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Gene und Umwelt
Der Genotyp eines Organismus repräsentiert seine genetische Ausstattung. Zwei Organismen, deren Gene sich auch nur an einem Locus unterscheiden, haben einen unterschiedlichen Genotyp. Beim Phänotyp eines Organismus dagegen handelt es sich um seine körperlichen Merkmale wie Größe, Gewicht, Haarfarbe usw. Den größeren Einfluss auf die Entwicklung eines Organismus hat der Genotyp. Doch auch Organismen identischen Genotyps unterscheiden sich in ihrem Phänotyp. Ein Beispiel sind eineiige Zwillinge. Diese haben den gleichen Genotyp, da sie das gleiche Genom in sich tragen, doch niemals den gleichen Phänotyp, obwohl sie sich sehr ähnlich sein können.
->   Mehr zur Evolution von Wyeomyia smithii
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Brutplatz in fleischfressender Pflanze
Die Mücke Wyeomyia smithii hat sich eine sehr spezielle ökologische Nische für ihre Fortpflanzung ausgesucht. Sie ist dabei auf eine fleischfressende Pflanze angewiesen, die nur im Osten Nordamerikas wächst.

Inmitten der mit Regenwasser und Verdauungssäften gefüllten Schläuche von Sarracenia purpurea schlüpft die Mückenlarve aus dem Ei, wächst als Larve heran und verschläft die kalten Winter.

 


Sarracenia purpurea
Tageslänge bestimmt Winterschlaf-Beginn
Der Zeitpunkt, ab dem die Mückenlarve sich auf den Winterschlaf vorzubereiten beginnt, wird von der Tageslänge bestimmt. Das ist in den etlichen Insektenpopulationen genetisch festgelegt.

In Kanada, wo sich der Winter bereits im September ankündigt, beginnt Wyeomyia smithii bereits im Juli mit den Winterschlafvorbereitungen, während die Mückenverwandten in Florida sich erst im November zur Winterruhe begeben.

Setzt man allerdings die kanadischen Mücken in Florida aus, ändert sich ihr Verhalten trotzdem nicht. Sie bereiten sich weiterhin im Juli auf den Winterschlaf vor.
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Umwelt und Gene
Das Konzept der phänotypischen Plastizität beschreibt das Maß, in dem der Phänotyp eines Organismus durch seinen Genotyp vorherbestimmt ist. Ein hoher Wert der Plastizität bedeutet: Umwelteinflüsse haben einen starken Einfluss auf den sich individuell entwickelnden Phänotyp. Bei geringer Plastizität kann der Phänotyp aus dem Genotyp zuverlässig vorhergesagt werden, unabhängig von besonderen Umweltverhältnissen während der Entwicklung. Hohe Plastizität lässt sich am Beispiel der Larven des Wassermolchs beobachten: Wenn diese Larven Räuber wahrnehmen, vergrößern sich Kopf und Schwanz im Verhältnis zum Körper und die Haut wird dunkler pigmentiert. Larven mit diesen Merkmalen haben bessere Überlebenschancen gegenüber Räubern, wachsen aber langsamer als andere Phänotypen.
->   Mehr zu den Einflüssen der Umwelt auf den Phänotyp
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Genetische Anpassung in kurzer Zeit
Nur bei einer Anpassung ihrer "Winterschlaf-Gene" an die geänderten Umweltbedingungen könnten die Mücken auf die Klimaerwärmung mit einer späteren Winterschlaf-Vorbereitung reagieren. Und genau das tun sie auch, wie die Biologen jetzt entdeckten.

30 Jahre lang haben William Bradshaw und Christina Holzapfel in 22 Sümpfen im Norden der USA und Kanadas die Biologie von Wyeomyia smithii untersucht und dabei beobachtet, dass sich die kanadischen Mücken - trotz ihrer genetischen Fixierung auf die Tageslänge - zunehmend später auf die Zeit des Winterschlafes vorbereiten.
Ganze neun Tage später
1972 begann der Winter für die Mücken in der kanadischen Provinz Ontario genau an dem Tag, der weniger als 15,79 Stunden hell war. 1996 "winterte" es für die Mücken erst, als die Tage kürzer als 15,19 Stunden wurden.

Das bedeutet, dass die Mücken in nur knapp 20 Jahren den Winterschlaf um ganze neun Tage später antraten - ein sehr kurzer Zeitraum für Gen-Anpassungen.
Seltene genetische Variante
Die Vermutung, es könnte sich bei den "Spät-Winterschläfern" um Mücken aus dem Süden handeln, die nach Norden gezogen sind, konnten die Forscher mittels Tests im Labor schnell ausschließen. Vielmehr existierten innerhalb der nördlichen Populationen einige Insekten mit Genvarianten, die ein späteres Rüsten für den Winterschlaf vorsehen.

Diese Genvarianten wurden nun durch den wärmeren kanadischen Herbst stark gefördert und die Mücken mit jenen Genvarianten dominierten mehr und mehr die Population.

Im Experiment zeigte sich, dass nur fünf Jahre vergehen müssen, bis sich die kanadischen Mücken ihren südlichen Artgenossen genetisch annähern - und später überwintern.
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Einfluss des Phänotyps auf die Gene
Im Gegensatz zur phänotypischen Plastizität befasst sich das Konzept der genetischen Kanalisierung mit der Frage, in welchem Umfang der Phänotyp Rückschlüsse auf den Genotyp zulässt. Ein Phänotyp wird kanalisiert genannt, wenn Mutationen (Änderungen des Genoms) die körperlichen Merkmale eines Organismus nur unmerklich beeinflussen. Das heißt, ein kanalisierter Phänotyp kann sich aus einer großen Bandbreite von Genotypen bilden. In diesem Fall lässt sich aus der Kenntnis des Phänotyps nicht zuverlässig auf den Genotyp schließen. Gibt es keine Kanalisierung, können kleine Veränderungen des Genoms unmittelbaren Einfluss auf den sich entwickelnden Phänotyp nehmen.
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Weitreichende Folgen?
Dies hat womöglich weitreichende Folgen. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr schnell zu einer genetischen Adaption an veränderte Umweltparameter kommen kann. Damit wird auch die Einbettung in einen größeren Gesamtzusammenhang deutlicher. Denn die Mücken sind auch Teil einer komplexen Nahrungskette.

So sind Kohlmeisen während der Aufzucht ihres Nachwuchses auf die Larven von Wyeomyia smithii angewiesen. Aber angesichts des zunehmend wärmeren Wetters sind diese dann schon längst geschlüpft. Welche weitergehenden Auswirkungen solche Gen-Anpassungen haben, werden erst weitere Untersuchungen klären können.
->   Ecology and Evolution Program, University of Oregon
->   Artikel in "Nature Science Update" zu den Gen-Anpassungen
 
 
 
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01.01.2010