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Bildung: Wie Gleichheit Ungleichheit fördert  
  Wie kommt es, dass die formale Gleichheit aller Bildungswilligen an den Schulen Ungleichheit reproduziert und zum Teil sogar fördert? In dem eben erschienenen Buch "Wie die Kultur zum Bauern kommt" sucht der französische Soziologe Pierre Bourdieu Antworten.  
Ein frühes Thema: Bildung und Chancengleichheit
Diejenigen Interviews und Aufsätze des Bandes, die sich mit Bildung und Pädagogik auseinander setzen, sind zu einem großen Teil bereits in den 1960er und 1970er Jahren im Zusammenhang mit einer Studie zum französischen Bildungswesen ("Die Illusion der Chancengleichheit", Dt. 1973) entstanden, haben aber von ihrer Aktualität nichts eingebüßt.

Zum einen geben die Texte Aufschluss über die allmähliche Verfertigung jener Konzepte - wie der Habitusbegriff und die Differenzierung von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital -, die in späteren Arbeiten Bourdieus zu wichtigen analytischen Werkzeugen wurden.

Zum anderen führen die Texte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Postulat der Chancengleichheit beim Zugang zu Schule und Bildung wieder vor Augen, die heute, angesichts von Studiengebühren und den Imperativen des "lebenslangen Lernens", erneut politische Dringlichkeit bekommen hat.
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Das Buch "Wie die Kultur zum Bauern kommt" ist im VSA Verlag erschienen und kostet 254 Schilling (17, 80 Euro).
->   VSA Verlag
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Die konservierende Funktion der Schule
Bourdieus These, die sich durch alle frühen Aufsätze zieht, ist, dass formale Gleichheit nicht automatisch zur Aufhebung von sozialer Ungleichheit führt: Formal stehen Schulen und Hochschulen allen Bildungswilligen in gleicher Weise offen, die verlangten Qualifikationen und Prüfungen sind für alle gleich.

Diese Gleichheit de jure reicht aber zur Aufhebung von ungleichen Bildungs- und Lebenschancen nicht aus. Vielmehr trägt dieses Postulat unter unveränderten gesellschaftlichen Bedingungen dazu bei, Erfolge und Misserfolge zu individualisieren und soziale Ungleichheit zu reproduzieren.
Gleichheit reproduziert Ungleichheit
Wie aber kommt es dazu, dass ein Instrument, das dazu gedacht ist, Ungleichheiten auszugleichen, wirkungslos bleibt? Bourdieu geht es nicht darum, das Postulat der Chancengleichheit zu denunzieren. In diesen frühen Texten zeigt er vielmehr, dass die Unterrichtsmethoden und Beurteilungsverfahren der Schulen und Hochschulen vorhandene Ungleichheiten bestätigen, indem sie die ungleichen Eintrittsbedingungen systematisch ignorieren.

Während die primäre Sozialisation in der Familie für die Kinder gebildeterer Klassen zugleich eine Phase der Anhäufung kulturellen Kapitals ist, sind Kinder benachteiligter Klassen gezwungen, sich von ihrer Herkunft zu distanzieren, denn Schule und Hochschule belohnen nur Habitusformen, die jenen der gesellschaftlichen Eliten entsprechen: "Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur."
Es liegt an den harmlosen Dingen
Es sind - Bourdieu wird nicht müde, es uns zu sagen - die harmlosen Dinge des Lebens wie Geschmack, Kultur, Vorlieben und Abneigungen, die soziale Herrschaft ausmachen und sie reproduzieren. Und es ist die Institution der Schule, die in modernen Gesellschaften den legitimen kulturellen Konsum sanktioniert.
Freiheit und Einverständnis
Gibt es also kein Entrinnen? Bourdieu wurde und wird immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Theorie sei deterministisch und versperre damit die Möglichkeit von Emanzipation und Veränderung. Eine Auseinandersetzung, die sich auch in den Interviews im neuen Band wieder findet.

Tatsächlich hat Bourdieu begründete Zweifel an der von seinen Interviewpartnern beschworenen "Freiheit des Individuums". Denn Freiheit und Individualität sind selbst Teil der Herrschaftsweisen der sozialen Welt.

Den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft lässt Bourdieu nicht gelten: "Diese Strukturen können nur dank der Komplizenschaft der Akteure funktionieren, die die Strukturen verinnerlicht haben, nach denen die Welt organisiert ist."
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Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu wurde 1930 im ländlichen Bearn in Frankreich geboren. Er lehrt Soziologie am College de France in Paris und machte zuletzt durch sein politisches Engagement in der Initiative Raisons d'agir auf sich aufmerksam.

Seine wissenschaftliche Arbeit begann Bourdieu Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre mit einer Studie zu Algerien, welche die Grundlage für seine später formulierte "praxeologische Theorie der Praxis" bildete. Im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Bourdieu durch seine Studie "Die feinen Unterschiede" (Dt. 1982), die der kulturellen Reproduktion sozialer Ungleichheit gewidmet ist.
->   Raisons d'agir
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->   "Hyperbourdieu" (kommentierte Bibliografie)
->   Initiative Raisons d'agir
Komplizen: Soziologie und Politik ...
Auch der Soziologe, der diese Strukturen untersucht, ist in sie verstrickt: Er profitiert, und noch in der Auflehnung ist Anerkennung enthalten. Immer wieder kommt Bourdieu in den Interviews auf dieses Problem zurück, das bei allen emanzipatorischen Hoffnungen, die er an eine "reflexive" Soziologie knüpft, offenbar ungelöst bleibt.

Ungelöst auch deshalb, weil es sich bis in soziologische Methoden hinein fortsetzt und sich damit nicht durch individuelle Anstrengungen einzelner Wissenschaftler/innen aufheben lässt.
... ob man will oder nicht
Wissenschaftliche Arbeit ist immer auch gesellschaftliche Arbeit und damit politisch, ob man nun will oder nicht: "Die politische Gleichgültigkeit ist eine Art und Weise, sich von der Welt abzuwenden und die soziale Welt wie ein Schauspiel zu behandeln, das man von den Höhen seiner wissenschaftlichen Größe betrachtet", sagt er in einem Interview und kommt damit auf ein Thema zurück, das bereits in seinen methodologischen Arbeiten eine wichtige Rolle spielte.
Kontinuität oder Redundanz?
Die Texte des Bandes zeigen die Verbindungen zwischen Methode, Theorie und politischer Haltung auf, die das Bourdieusche Denken kennzeichnen, und sichtbar wird die erstaunliche Kontinuität des Werkes.

Fragestellungen, Themen und Perspektiven auf die soziale Welt ziehen sich von den Anfängen in den fünfziger Jahren bis heute durch - eine Kontinuität, die Bourdieu mitunter auch den Vorwurf eingetragen hat, redundant zu sein. Nun wird dieser Band diese Kritik nicht entkräften können - im Gegenteil.

Vielmehr zwingt er noch einmal dazu, Bourdieu genau zu lesen und sicher geglaubte Erkenntnisse in Frage zu stellen. Bourdieu ist nicht immer derselbe.

Cathren Müller
 
 
 
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01.01.2010