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Völkermord - Geschichte wiederholt sich nicht, aber...  
  Mit den Völkermorden des 20. Jahrhunderts wurde neben der Frage nach möglichen Ursachen auch die Frage nach der Rolle der Völkergemeinschaft und einer wirksamen internationalen Rechtssprechung drängend.  
Im Rahmen des internationalen Ö1-Symposions "Völkermord - Geschichte und Prävention" wurde von führenden Experten der Versuch unternommen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Gewählter Zugang: Vergleichende Analyse
In einer vergleichende Analyse der Gräueltaten, begangen an der armenischen Bevölkerung, während des Holocausts und des Völkermords in Ruanda, wurden systematisch Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und daraus Schlüsse gezogen.
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Ö1-Symposion: Völkermord - Geschichte und Prävention.
8. und 9. 11. 2001, Beginn: 9.00 Uhr
RadioKulturhaus, Argentinierstrasse 30 A
1041 Wien
Veranstaltet in Kooperation mit der Stadt Wien und der hans jonas gesellschaft sowie mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Auskünfte: Ö1 Servicenummer 501 70 371
e-mail: symposien@orf.at
->   Programm und Teilnehmende des Symposions
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Genozid an den Armeniern: Paradigmatische Bedeutung
Dennis Papazian, Historiker und Direktor des Armenian Research Centers an der University of Michigan-Dearborn, betonte die paradigmatische Bedeutung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung, der im Zuge der Konstituierungsprozesse des türkischen Nationalstaates am Beginn des 20. Jahrhunderts stattgefunden hatte.

Dieser sei der erste Völkermord, der in Europa, durchgeführt wurde und weise eine Systematik auf, die als Vorbild für die Planung und Durchführung der Massendeportationen im nationalsozialistischen Deutschland betrachtet werden könne, so der Historiker.
Nationalistische Ideologie
Das Jungtürkische Regime des Triumvirats Enver-Talaat-Cemal gelang an die Macht, als die Ära des Osmanischen Reiches durch Kriege, verlorenen Territorien und unzählige Flüchtlingen besiegelt wurde. Laut Papazian befand sich das Land in einem Zustand des nationalen Traumas und der Verwirrung, die einer nationalistischen Ideologie die öffentliche Unterstützung sicherte.
Mystische Komponente: Massenverehrung
Ähnlich wie das nationalsozialistische Regime in Deutschland Jahrzehnte später, konnten die Jungtürken einerseits die Verehrung der Masse propagieren - die muslimische türkische Nation, anderseits Sündenböcke für die Krise der Nation präsentieren - die christlichen Armenier.

Letztere hatten Verrat an der türkischen Nation begangen, da sie die europäischen Reformbestrebungen wie Demokratisierung und Säkularisierung des Staates forderten.
Genozid leugnen bedeutet diesen fortsetzen
Obgleich es ausreichend Beweise gäbe, werde der an den Armeniern begangene Genozid bis heute geleugnet beziehungsweise ignoriert, so Papazian. Dieser Umstand sei Besorgnis erregend, zumal für den Historiker außer Frage steht: "Genozid leugnen, bedeutet diesen zu wiederholen beziehungsweise fortzusetzen."
->   Mehr zum Vortrag von Dennis Papazian
"Geschichte wiederholt sich nicht, aber ...
... manchmal reimt sie sich!" Unter diesem Motto zog der internationale Experte für Staatspolitik in Ruanda und Burundi, Rene Lemarchand, einen Vergleich zwischen den zwei seiner Ansicht nach größten Tragödien, dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda.

Dabei seien Parallelen feststellbar wie auch grundlegende Unterschiede. Lemarchand betont in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Konzeptionen der beiden Völkermorde.
Ideologischer und vergeltender Völkermord
Auch wenn es sich dabei um "Idealtypen" handle, die der Realität niemals gerecht werden können, so lasse sich der Holocaust als ein ideologischer Völkermord darstellen, während die Gräueltaten in Ruanda als ein vergeltender Völkermord charakterisiert werden könnten.

Der signifikante Unterschied liege in den jeweils konstruierten Feindbildern: Während die nationalsozialistische Propaganda die jüdische Bevölkerung für Geschehnisse verantwortlich machte, die in keiner Weise den Tatsachen entsprachen, basierte das Feindbild Tutsi auf - zwar vergangenen aber dennoch realen - Erfahrungen der Hutu.
Rassismus durch Kolonialverwaltung geschürt
Lemarchand verweist des Weiteren auf die Rolle der ehemaligen Kolonialverwaltung, die entscheidend zu den Entwicklungen in Ruanda beitrug.

Die Tutsi wären durch die Kolonialmächte zu einer höheren Klasse erklärt worden. Mit den ihnen zugestandenen Privilegien auf Kosten der Hutu wäre das Selbstverständnis der Hutu als Opfer eines rassistischen Staates zementiert worden.
Opferstatus als kollektives Selbstverständnis
Der jahrzehntelang währende Machtkampf zwischen Tutsi und Hutu forderte Hunderte von Todesopfern sowie Massenvertreibungen unter den Hutu. Diese Geschehnisse erlangten zum einen kaum international Beachtung, zum anderen wurden sie ein Bestandteil des Selbstverständnisses der Hutu. Und beides sei entscheidend gewesen für die entsetzlichen Ereignisse in Ruanda, so Lemarchand.

Anlässlich der Ermordung von drei Hutu-Präsidenten zwischen 1993 und 94 sei es für die Hutu-Miliz einfach gewesen, eine Propagandamaschinerie in Gang zu setzen, die einerseits die Ängste der Hutu-Bevölkerung in eine reale Bedrohung verwandelte und anderseits gewöhnlichen Menschen zu brutalen Mördern werden ließ.
Passivität der Völkergemeinschaft
Abschließend kritisierte Lemarchand die passive Rolle der Völkergemeinschaft im Falle von Ruanda, aber auch anlässlich der Geschehnisse im Deutschland der 30er-Jahre, die er als eine Zustimmung zum Völkermord deutet.

"Verbrechen, das nicht bestraft wird, kann zum Präzedenzfall für weitere Verbrechen werden" erläutert Lemarchand und betont die Notwendigkeit, Täter - als einen ersten Schritt der Genozidprävention - zu bestrafen.
Internationales Recht unzeitgemäß?
Ebenfalls am Beispiel von Ruanda demonstrierte Dianne Marie Amann, Professorin der Rechtswissenschaften an der University of California, die Problematik einer internationalen Rechtssprechung, die auf einer Begriffsdefinition des Genozids aus dem Jahre 1948 basiert.

Denn obwohl damals die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords verabschiedet wurde, seien viele Gräueltaten der letzten Jahrzehnte nicht als Völkermord anerkannt worden.
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Genozid-Definition
Genozid ist definiert als eine Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten, sei es durch direkte Tötung, Schaffung tödlicher Lebensbedingungen, Verschleppung oder zwangsweise Unterdrückung von Geburten.
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Definitorische Falle des Genozidbegriffs
Die Gründe dafür liegen für Amann in der definitorischen Falle des Genozidbegriffs. Denn auf Druck der Sowjetunion und durchaus im Interesse der USA und Großbritanniens, sei die ursprüngliche Definition des Begriffs eingeschränkt worden.

Demnach finde die vorsätzliche Tötung politischer, ökonomischer, weltanschaulicher oder auch ethisch-moralischer Gegner keine Erwähnung. Die bis heute nicht als Völkermord anerkannte Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha sei eines von vielen Beispielen für die Problematik des Begriffs.
Ruanda als Wegbereiter für eine Rückbesinnung
Die unfassbaren Gräueltaten in Ruanda und die schockierenden Schlussfolgerung, dass keiner der im Gesetzestext angeführten Begriffe zutraf, führten laut Amann zu einer Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung von Genozid.

Denn obwohl die Tutsi wie die Hutu der selben Nation, der selben Religion und Kultur wie auch Ethnie angehören, entschied sich das Kriegsverbrechertribunal für Ruanda, dennoch von Genozid zur sprechen.
Gesellschaftlicher Kontext statt Objektivität
Daher plädiert Amann wie auch Rene Lemarchand und Mark Levene dafür, in der Bestimmung und Auslegung des Genozidbegriffs vermehrt den gesellschaftlichen Kontext statt objektive Kriterien in den Blickpunkt zu rücken.
->   Mehr über den Vortrag von Mark Levene
Da der Gesetzestext aus einer Zeit des Kalten Krieges stamme, könne man sich, wenn es um die Probleme des 21. Jahrhunderts gehe, nicht eng daran halten.
Expressive Kraft der Konvention erhalten
Gleichzeitig warnt Amann jedoch vor einer Ausweitung der Konvention, zumal der expressiven Kraft der Konvention aufgrund der bislang begrenzten Möglichkeiten der internationalen Strafverfolgung eine besondere Bedeutung zukomme.

Es bestehe die Gefahr, dass, je mehr Gruppen geschützt würden - indem sie in die Genozidkonvention einbezogen werden, desto mehr die Kraft des Genozidbegriffs verwässert würde. "Und Genozid ist die schlimmste Bezeichnung, die wir vergeben können", so Amann.

Agnieszka Dzierzbicka, science.orf.at
->   Mehr über den Vortrag von Diane Amann
Weitere Artikel zum Symposion in science.orf.at:
->   Völkermord: Zwei Erklärungsansätze
 
 
 
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01.01.2010