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Genozid: Die Verantwortung der Eliten  
  Die Schreckenserfahrungen von Holocaust und Genozid im 20. Jahrhundert stellen auch die Frage nach der Verantwortlichkeit gesellschaftlicher Eliten. Wie insbesondere die Wissenschaft den Aufstieg von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus gefördert hat und was ihr Beitrag heute im Kampf dagegen sein kann, war Thema des Ö1-Symposions "Völkermord - Geschichte und Prävention".  
Ambivalenz der Wissenschaft
John Weiss skizzierte die lange Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Der an der City University of New York lehrende Historiker brachte dabei die Ambivalenz der Wissenschaft angesichts monströser Themen wie Völkermord auf den Punkt.

Einerseits die Hilflosigkeit: "Historiker sagen die Vergangenheit voraus." Andererseits die Notwendigkeit: "Wenn wir die Geschichte nicht formen, formt uns die Geschichte."

Studien und Analysen der Vergangenheit, da waren sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Symposions einig, sind notwendig, um für die Zukunft Schlüsse zu ziehen. Auch und besonders hinsichtlich der Rolle, die Wissenschaft und geistige Eliten bei Völkermorden gespielt haben und spielen.
Soziale Eliten: Sorgen für Genozid-Vokabular
Zwar finden sich die Anhänger xenophober oder rassistischer Ideologien quer durch alle Gesellschaftsschichten und der Holocaust wurde einmal als "nationales deutsches Projekt" bezeichnet, wie der Soziologe Alex Alvarez von der Northern Arizona University erläuterte.

Aber von entscheidender Bedeutung seien doch die sozialen Eliten, die intellektuelle, wissenschaftliche oder juristische Rechtfertigungen für Gewalt und Grausamkeiten liefern.

In erster Linie gehören dazu Juristen, Ärzte und Wissenschaftler, die eine Art "Vokabular des Genozids" bereit stellen, das danach von einer größeren Gesellschaftsgruppe blutig "angewendet" werden kann.
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Beispiel Hygienevorstellungen
Dass dieses Vokabular auch gegen die ursprünglichen Intentionen ihrer Erfinder eingesetzt werden kann, beschrieb Alvarez am Beispiel der Hygienevorstellungen im frühen 20. Jahrhundert. Die Mediziner wären von ihrem Kampf gegen Krankheiten aller Art geradezu besessen gewesen und versuchten sie mit allen möglichen sanitären und hygienischen Maßnahmen zu erreichen. "Unglücklicherweise begannen sie dann die Juden mit den Überträgern der Krankheit gleichzusetzen, Typhus etwa wurde als 'Judenfieber' bezeichnet."
->   Mehr über den Vortrag von Alex Alvarez
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Rassenlehre und Eugenik
Auffälligstes Beispiel für die Bereitstellung eines solchen Vokabulars und einer entsprechenden Ideologie war die Eugenik der Nazis. Henry Friedländer, einer der weltweit führenden Holocaust-Forscher, zeichnete den Weg von der pseudo-wissenschaftlichen Fundierung der Rassenlehre über die Eugenik bis zur "Endlösung der Judenfrage" nach.

Die Nazis, so Friedlander, hätten drei Bevölkerungsgruppen systematisch bekämpft und auszurotten versucht: Behinderte, Juden und Zigeuner. Verbindendes Element zwischen diesen war ihre biologische Determination - "Sie konnten ihrem Schicksal nicht entrinnen".
Wissenschaftliche Legitimation von Massenmord
Die 'wissenschaftlichen' Grundlagen der vermeintlichen "arischen Überlegenheit" stammten von den Rassenideologen des 19. Jahrhunderts, deren Texte heute bestenfalls Mitleid erregen.

Und doch standen sie gemeinsam mit den Euthanasie-Büchern der 1920er Jahre Pate für die Vernichtung "unwerten Lebens". Was die Nazis anfangs noch geheim an Behinderten 'übten', wurde später zur Routine ungeheuren Ausmaßes - das geplante, bürokratisierte, später auch fabriksmäßig betriebene Ermorden ganzer Bevölkerungsgruppen.
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Juristen: Was legal ist, ist legitim
Doch auch andere Wissenschaften bereiteten den Boden für die Grausamkeit: Wie Alex Alvarez ausführte, machen das Juristen auf ihre Weise - das Gesetz verfährt definitionsgemäß nach dem Motto: "Was legal ist, ist legitim, was illegal ist, ist illegitim."

Der Holocaust, so Alvarez, konnte nur geschehen, nachdem die Juden über Jahre hinweg - auf rechtlicher Basis - ihrer Berufe, ihrer Besitztümer und ihrer Rechte beraubt wurden.
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Präventionsstrategien?
Die Komplizenschaft und (Mit)Täterschaft von Wissenschaft und geistigen Eliten an Vorbereitung und Durchführung an Völkermorden ist unbestritten.

Unterschiedlich wurden auf dem Ö1-Symposien die Chancen auf Verhinderung künftiger Gräueltaten und die aktuelle weltpolitische Situation eingeschätzt.
Keine geheimen Massenmorde mehr möglich
Der NS-Historiker Friedlander sieht gegenüber der Vergangenheit Fortschritte: Die vielgescholtene "Globalisierung" hält er für positiv -durch Internet und andere weltweite Informationsquellen könnten gewisse Praxen nicht mehr "im geheimen", von der Öffentlichkeit unbemerkt geschehen.

Damit in Verbindung stünde das Phänomen, Gegner nicht mehr so einfach dämonisieren zu können, da "man sie besser kennt".
"Frühwarnsystem" Menschenrechte ...
Als einen möglichen Ansatzpunkt für die Vorhersage künftiger Völkermorde nannte Alvarez die konkrete Menschenrechtssituation in den Ländern, auch wenn "viele Staaten sehr zynisch mit dem Begriff Menschenrecht umgehen".
... oder Interventionstruppen?
Der Anthropologe Alan Jacobs wurde konkreter und nannte zur Bekämpfung von Massenmorden den Einsatz internationaler Eingreiftruppen, die Eskalationen unterbinden sollten. Diese sollten seiner Ansicht eine Art Polizeifunktion ausüben und wie bei kriminellen Taten Einzelner am jeweiligen Ort des Verbrechens eingreifen.
Was tun?
Wie der Gefahr neuer Völkermorde und Grausamkeiten auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wirksam begegnet werden soll, blieb auf dem Symposion strittig - und ging über allgemeine Wünsche nicht hinaus. John Weiss meinte, dass die einzige Hoffnung "demokratischer Liberalismus, wissenschaftliche Rationalität, soziale Gleichheit und Umweltschutz" sei.

Friedlander, der sich eigentlich als Skeptiker in Sachen Erziehung sieht, setzt dennoch auf dessen präventiver Wirkung, denn "wir haben nicht viel anderes."

Alan Jacobs gab sich noch weniger optimistisch: "Ich glaube, wir sind nach wie vor hilflos, wir wissen nicht, wie wir das Morden aufhalten können."

Lukas Wieselberg, science.orf.at
Weitere Texte zum Symposion:
->   Völkermord: Zwei Erklärungsansätze
->   Völkermord - Geschichte wiederholt sich nicht, aber...
->   Völkermord - Geschichte und Prävention
->   Programm und Referenten des Symposions
 
 
 
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01.01.2010