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Die grenzenlose "Vermarktlichung" des Lebens?  
  Die Welt bietet am Anfang des dritten Jahrtausends das Bild eines globalen Marktes. Noch nie ist sie in so fundamentaler Weise von ökonomischen Prinzipien beherrscht worden wie heute: Angebot und Nachfrage, Management und Effizienz diktieren zunehmend weite Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Soziologen sprechen demnach von einer "Vermarktlichung" des Lebens, ein Prozess, der grenzenlos und unaufhaltsam scheint.  
Wer hätte vor kurzem daran gedacht, dass es einmal Eltern geben würde, die den Vornamen ihrer Kinder an Firmen verkaufen würden, zum Beispiel ¿Coca Cola"? Unmöglich? - Nein, das gibt es bereits. Eine amerikanische Familie bietet das zumindest per Internet an.
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"Alles zum Kaufen?"
Dieses kleine Beispiel stammt vom Grazer Soziologen Hans-Georg Zillian. Er arbeitet im Büro für Sozialforschung in Graz und war einer der Referenten der Tagung "Alles zum Kaufen?", die die Österreichische Forschungsgemeinschaft (ÖFG) vor kurzem in Wien veranstaltet hat.
->   ÖFG: Tagung "Alles zum Kaufen?" (pdf-file)
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Fundamental-Ökonomisierung der Lebenswelt
Die Welt bietet am Anfang des dritten Jahrtausends das Bild eines globalen Marktes. Noch nie ist sie in so fundamentaler Weise von ökonomischen Prinzipien beherrscht worden wie heute: Angebot und Nachfrage, Kauf und Verkauf, Management und Effizienz diktieren zunehmend weite Bereiche des öffentlichen Lebens.

Das neue an dieser Situation ist aber, dass sich die Ökonomisierung nicht mehr allein auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt, sondern dass sich ein Prozess der Marktförmigkeit herausgebildet hat, der großen Einfluss auf die bislang marktfernen privaten Beziehungen und öffentlichen Lebensbereiche gewonnen hat.
"Vermarktlichung": Konsequenz des modernen Lebens?
Dieser Prozess wird im gegenwärtigen soziologischen Diskurs als der Prozess einer "Vermarktlichung" des Lebens beschrieben.

Das erscheint auf den ersten Blick als eine praktische Konsequenz der modernen Lebensweise. Unsere Zeit ist knapp. Die Arbeitsanforderungen groß. Und der Wohlstand ist in der Konsumgesellschaft gewachsen. Flexibilität wird als oberste Arbeits-Tugend gepriesen.

Auch sind die Staaten heute in Märkte eingebettet und nicht mehr die Märkte in Staaten. Aus all diesen Gründen delegieren wir heute viele Tätigkeiten und Aufgaben an professionelle Dienstleister und Institutionen, die diese Arbeit für uns erledigen.
Bildung als Kapitalfaktor
Auch andere Bereiche sind dem Prozess der Vermarktlichung unterworfen. Bildung etwa wurde zu einem Kapitalfaktor, Universitäten werden dazu gedrängt marktkonformes Wissen für die Globalisierung zu produzieren.

Und der marktförmige Tausch macht auch vor Privatbeziehungen wie Familie und Partnerschaft nicht halt.
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Gründe für die Dominanz des Marktes
Drei Gründe für die überhandnehmende Dominanz des Marktes nennt der Grazer Finanzwissenschaftler Richard Sturn:
1) die Konsumentenwünsche: Moderne Menschen wollen eine Auswahl an verschiedenen Produkten und Dienstleistungen.
2) die Anpassungsfähigkeit: Kein anderes Koordinationssystem reagiert auf diese Bedürfnisse so schnell und flexibel wie der Markt und
3) die Anschlussfähigkeit: Märkte sind auch an korrigierende Institutionen wie den Staat anschlussfähig, der dort eingreift, wo der Markt versagt. In jenen Bereichen des Marktversagens werde der Staat weiterhin den Markt politisch koordinieren müssen. Als Beispiele dafür nennt Sturn die vom unkontrollierten ökonomischen Wachstum verursachten globalen Umweltprobleme (Treibhaus-Effekt) und die Rinderseuche BSE.
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Lebensstil: Zunehmend durch Vermarktlichung geprägt
Märkte prägen zunehmen den Lebensstil der Menschen. Manfred Prisching, Professor für Soziologie an der Universität Graz: "Ältere Menschen sind früher im Familienkreis gepflegt worden - jetzt boomen die Pflegemärkte. Essen wurde früher am heimischen Herd produziert - jetzt greift man auf Fertigprodukte zurück. Kinder wurde früher Skifahren beigebracht - jetzt werden sie von Coaches betreut. Fürs Stillen geht man in Kurse - früher meinte man, dies sei eine angeborene Fähigkeit".
Übergreifen auf zwischenmenschliche Beziehungen
Doch damit nicht genug. Die Vermarktlichung hat mittlerweile auch auf die intimen zwischenmenschlichen Beziehungen übergegriffen.

"Es wird zu einem gutbezahlten Job, Sterbenden die Hände zu reichen. Persönlichkeitsbildung, die früher aus der Interaktion mit Eltern, Lehrern und Freunden gelernt wurde, wird heute in Wochenendseminaren feilgeboten", erläutert Prisching.
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Dienstleistungsmärkte und Vermittlungsagenturen
Zum Zweck des Austragens und Gebärens entständen biologische Dienstleistungsmärkte samt den dazugehörigen Vermittlungsagenturen, so der Soziologe weiter. "Schon steht die Vermarktung des genetischen Kerns des Menschen vor der Tür."
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Selbstpräsentation statt Persönlichkeitsbildung
In einer kurzfristigen bindungslosen Arbeitswelt wird auch die kurzfristige folgenlose Interaktion mit der Außenwelt belohnt. Wenn man auf dem Markt den Wert seiner "Ich-Aktie" behaupten will, dann wird die zeitraubende Persönlichkeitsbildung obsolet. Ersetzt wird sie durch Techniken der Selbstpräsentation und -durchsetzung.

Die geforderte Flexibilität des modernen Menschen wird zusammen mit der Illusion verkauft, dass der Mensch ein freier Entscheider auf dem Markt ist. Wer heute Waren verkauft, verkauft aber zugleich Identitätsangebote.
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Waren als Marken
Waren als Marken suggerieren Sicherheit, Stabilität und Zugehörigkeit. Deshalb - und weniger wegen ihres Nutzwertes - werden sie letztlich auch gekauft. Auch wenn diese nur Schablonen sind, üben sie dennoch auf sehr viele unsichere Menschen große Faszination aus.
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Schrankenlose Vermarktlichung?
Es gibt - so scheint es - keine Vermarktlichungsschranken. Der ¿Marktimperialismus gemeindet alles ein¿, sagt Manfred Prisching.
Marktkonformität und politisches Handeln
Auch die Politik orientiert sich zunehmend an dem, was der Markt und seine Konsumenten, die Wähler, verlangen. Sie operiert marktstrategisch. Die Themen, die bei den potentiellen Wählern, sprich Konsumenten hoch im Kurs stehen, kommen ins Parteiprogramm.

Politik wird so zu einer am Kurswert tagesaktueller Bedürfnisse orientierten Handlungsweise. Sicherheit beispielsweise sei derzeit das "politische Highlight", nach dem sich kurzfristige Parteiprogramme und -strategien orientieren, sagt der Regensburger Soziologe Robert Hettlage.

"Wir haben zu viele Politiker und zuwenig 'Staatsmänner': Staatsmänner schauen auf die nächste Generation - Politiker auf die nächsten Wahlen", so Hettlage.
Suche nach alternativen Gegenkräften
Das Marktdenken wird - allem Anschein nach - in einer postmodernen Welt - seinen Einfluss als ordnendes Prinzip weiter ausbauen. Allerdings zehrt jeder Markt von sozialen und ökologischen Voraussetzungen, die er nicht geschaffen hat.

Hier tut sich eine Schere auf, für die Manfred Prisching noch keine Lösung sieht: "Das ist das Dilemma. Wir leiden am Markt, sind aber auch keine Marktvernichter. Wir können und wollen den Markt nicht abschaffen. Wir haben keine Alternative".

Derzeit könne man die Auswucherungen und das Übergreifen des Marktes in die Privatsphäre auch nur im persönlichen Bereich eindämmen und bekämpfen.
Glück ist "not for sale"
Es gibt aber auch strukturelle Gründe, warum sich die Versprechen der Konsumgesellschaft nicht uneingeschränkt einlösen lassen. In einer Marktgesellschaft kann nicht jeder Generaldirektor werden. Nicht jeder wird sich eine Villa am See leisten und es wird trotz allem auch jene geben, die das auch gar nicht wollen.

Es könnte sein, dass die Vermarktlichung zu jenem Grad wieder auf menschliche Dimensionen zurückgestutzt wird, in dem sich die Marktteilnehmer fragen, ob das, was sie auf dem Markt heute suchen und kaufen, sie wirklich glücklich macht. Glück beispielsweise ist "not for sale". Die Frage nach dem "guten Leben" ist auch auf diesem Hintergrund höchst aktuell.

Ein Beitrag von Johannes Kaup für das Salzburger Nachtstudio vom 14. November auf Ö1
->   Radio Österreich 1
 
 
 
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01.01.2010