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Im Zeitalter des Genoms  
  Die tägliche Berichterstattung über den Stand der Gentechnik und ihrer politischen Einschätzung lässt sich mit Kriegsberichten vergleichen: Die Ereignisse und Stellungnahmen ändern sich so schnell, dass der Bericht, kaum veröffentlicht, schon veraltet ist.  
Die Tragweite der möglich gewordenen Veränderungen am Menschen ist geradezu unermesslich. Allerdings verzerrt die augenblickliche Euphorie bei einem Großteil der Forscher und Politiker die zeitlichen Dimensionen des Machbaren.
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Betrachtungen über Genforschung
In einer Sendereihe für den Ö1-Essay beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Hans Jürgen Heinrichs mit aktuellen Fragen der Genforschung. "Science.orf.at" bringt Auszüge aus diesen Reflexionen.
->   Radio Österreich 1
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Unter dem Deckmantel der Vision vom Neuen Menschen
Von Hans Jürgen Heinrichs

Alles Machbare will der Mensch auch ausprobieren, möglichst unmittelbar realisiert sehen. Und überall, wo er glaubt, Defizite und Mängel zu erkennen, will er eingreifen und verbessern, schnell verbessern. Das ist eine Konstante in der Menschheitsgeschichte.

Nur selten und oft erst im nachhinein begleitet er sein Tun selbstkritisch und mit ethischen Überlegungen. Selbstkontrolle ist nun auch gerade keine Stärke der neuen Genforschung und Technologie.
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Unter dem Deckmantel einer Vision vom Neuen Menschen - befreit von den nicht mehr zeitgemäßen Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer - bricht sich einerseits ein ökonomisches Interesse ungeahnten Ausmaßes Bahn; andererseits will sich das Neue Denken als Licht-Vision begreifen. Beiden Richtungen ist aber eine extreme Verkürzung des Anteils eigen, den der einzelne noch bei diesem Prozess zu erbringen hat.
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Ethische Haltung
Angesichts des stetig wachsenden technologischen Vernichtungspotentials und der biotechnologischen Eingriffsmöglichkeiten bedarf es eines mitwachsenden Bewusstseins und einer entsprechenden ethischen Haltung, einer Kooperation von Ethik und Politik, die den Machtgebrauch zu steuern versucht.
Paradoxe Erfahrungen
Wir haben es mit der paradoxen Situation zu tun, dass uns die Gentechnik - etwa im Unterschied zur Raumfahrttechnik, die uns vor einigen Jahrzehnten in ihren Bann zog - wieder ganz nah zu uns bringt, uns an den menschlichen Innenraum heranführt, und doch zugleich die damit verbundenen möglichen intensiven Erfahrungen von Nähe, Sein, Leben und Tod eher abzuschnüren versucht und das "Technische" der Vorgehensweise betont.
Grenzen der Gentechnik
Man sollte diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen verlieren, wenn man emphatisch und pathetisch den ¿Segen¿ der neuen Genetik und regenerativen Medizin beschwört. Dies heißt aber nicht, ihre Erfolge und ihre Bedeutung für den Menschen herabzusetzen.

Im Gegenteil: Indem man ihre wissenschaftlichen und ethischen Grenzen deutlicher konturiert und zeigt, was durch sie nicht geleistet werden kann, ja, eher noch aus dem Blickfeld gerät, werden auch ihre Wirkungsbereiche und ihre Entwicklungen erkennbar.
Verlagerung der Debatte
Die anthropologische, kulturkritische oder auch theologische Diskussion darüber, wie weit die Wissenschaft gehen darf, hat sich verlagert hin zu einer politischen Debatte über gesetzlich zu regelnde Grenzziehungen in der Biomedizin.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Parteien wenig an einer Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung interessiert sind und letztlich in ihrer ¿Biopolitik¿ nur festlegen wollen, wie weitgehend man die Forschung wirtschaftlichen Interessen unterordnen darf, ohne die alten Ideale völlig aus den Augen zu verlieren.
Die Bedingungen des Menschen
Aber selbst die Chance, die neuen Technologien mit Rechtssystemen einzuholen, ist nicht allzu groß. Wir müssten in unserer Bewusstseinsbildung schneller als die technologischen Entwicklungen sein.

Vielleicht werden wir schon in nächster Zukunft den Blick wieder stärker auf die soziokulturellen Bedingungen des Menschen lenken und zu erkennen versuchen, wie diese mit den genetischen Konditionierungen verflochten sind. Dann werden auch wieder Sozialreformen an Attraktivität gewinnen. Voraussetzung dafür aber ist, dass wir uns von dem Erfolg der Wissenschaftler, das Genom entschlüsselt zu haben, nicht blenden lassen.
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Vorsichtiger Optimismus
Mit was ist dieser Erfolg zu vergleichen: mit der durch Galilei und Kopernikus eingeleiteten neuen Weltsicht? Mit der Entzifferung der Hieroglyphen? Oder führt dieser wissenschaftliche Fortschritt in eine Dimension, in der der Erfolg sich am Ende in maßlosen Schrecken verwandelt? Aber so wie die Entzifferung der Hieroglyphen uns lehrte, dass die Zeichen isoliert nicht zu deuten sind und erst im übergreifenden Gesamtsystem ihre Bedeutung erhalten, so haben die verantwortungsvollen Humangenetiker, Molekularbiologen und Hirnforscher inzwischen den überbordenden Optimismus derer zurückgewiesen, die in der gefundenen Genomstruktur schon die Anleitung für einen generellen Umbau des Menschen zu erkennen glauben.
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Der Genforscher als Linguist
Noch muss sich der Genforscher als Linguist und als Komplexitätsforscher bewähren, denn zur Zeit steht er erst am Anfang des Lesens, der Übersetzung und des Erkennens, unter welchen Bedingungen und Wechselwirkungen das einzelne Genom auf diese oder jene Weise zur Geltung kommt.

Nicht alles ist genetisch dominiert; wir sind noch weit davon entfernt, wirklich zu verstehen, wie das Genom funktioniert, und deswegen ist man vorerst auch noch nicht in der Lage, so in Gene und deren Grammatik einzugreifen, dass Wunschbilder - Idealmenschen - fabriziert werden können.
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Wie steht der Mensch zu sich selbst, wenn er sich im Spiegel der künftigen gentechnologischen Praxis anschaut? Aber auch im Spiegel der modernen Chirurgie und verwandter Praktiken; das betrifft die Praxis der Organ-Implantation, das Einsetzen von Herzschrittmachern und zahllose prothetische Techniken.
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Überschreitungen in der Genforschung
Wir haben es also mit einer anthropologischen Umstrukturierung zu tun. In dieser Selbstentfremdung ist zugleich die Chance und Ausdehnung des Lebendigen über seine bisherigen Grenzen hinaus beschlossen. Extreme Selbstverdinglichungen und eine erstaunliche Erweiterung von Aktionsspielräumen gehen Hand in Hand.

Das Unheimliche kommt uns in diesen Techniken unmittelbar nahe. Man fragt sich unwillkürlich: Kann dieses Unheimliche ins Barbarische übergehen? Um welche Art von Überschreitung handelt es sich in der Genforschung und Robotik?
Geht das Maß verloren?
Es ist eine Überschreitung oder Transgression, die wahrscheinlich nicht wieder rückführbar und reintegrierbar ist in die symbolische Kette, die den Menschen traditionell prägt.

Die Formen ritueller Überschreitung erweiterten den persönlichen und interaktiv erlebten Erfahrungsraum des einzelnen. Diese Erweiterung verliert jetzt ihr anthropologisch bekanntes Maß.
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Zukunftssymposion "Life Sciences"
Am 28. und 29. 11. findet im RadioKulturhaus das Ö1 -
Zukunftssymposion "Life Sciences" statt.
Auskünfte: Ö1-Service-Telefon: (01) 501 70 371
e-mail: symposien@orf.at
->   Programm und Referenten des Symposions
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01.01.2010