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Celan und die Intellektuellen  
  Paul Celan hat den Ruf eines schwierigen, beinahe unverständlichen Lyrikers. Er gilt als Inbegriff eines Dichters, der die traumatischen Erfahrungen des 20.Jahrhunderts, speziell des Nationalsozialismus, in eine unvergleichbare Sprachform umsetzte, die auch zahlreiche Intellektuelle faszinierte.  
Celan-Lektüren
Der Wiener Germanist Martin Hainz hat nun ein Buch mit dem Titel "Masken der Mehrdeutigkeit" vorgelegt, das sich mit dem Einfluss Celans auf die Geistesgeschichte im 20.Jahrhundert beschäftigt.

Hainz versteht sein Werk als kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Celan-Lektüren, die der Philosoph Theodor Adorno, der Literaturwissenschafter Peter Szondi und der postmoderne Künstlerphilosoph Jacques Derrida vorgelegt haben.

Er sieht sein Buch als "Intervention"; er will zeigen, dass selbst so komplexe Interpretationen der drei genannten Denker mit Vorsicht zu genießen sind. Sein Ziel ist es, eine "behutsame Lektüre" Celans anzuregen - sich zwar auf gegebene Standards zu beziehen, ohne sie jedoch als unhintergehbar anzusehen.
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Paul Celan-Biografie
Paul Celan, 1920 als Sohn jüdischer Eltern in Czernowitz geboren -eigentlicher Name Paul Antschel - war während des 2.Weltkrieges in einem rumänischen Arbeitslager interniert. 1947 kam er nach Wien, wo er seinen ersten Gedichtband "Sand aus den Urnen" publizierte. Später übersiedelte er nach Paris, wo er hauptsächlich als Übersetzer wirkte und 1970 Selbstmord beging. In seinen Werken thematisierte er immer wieder das Schicksal verletzter, zerstörter Menschen, die - wie seine Eltern - dem Holocaust zum Opfer fielen. Berühmt wurde er mit dem Gedicht "Todesfuge", in dem er verschlüsselt Trauer über einen Menschen ausdrückt, der überlebend nicht mehr lieben kann.
->   Paul Celan - Links
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Gegen Adornos Hermetikvorwurf
Neben Samuel Beckett war Paul Celan wahrscheinlich der einzige Künstler, den der Philosoph Adorno vorbehaltlos anerkannte. In der "Ästhetischen Theorie" schrieb er "Celans Gedichte ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja alles Organischen nach, die des Toten von Stein und Stern".

Gegen diese hermetische Deutung wendet sich Hainz, wobei er sich auf Äußerungen Celans bezieht: "Ganz und gar nicht hermetisch" -so Celan in einer Widmung - "nicht dunkel, nicht unverständlich, nicht der Wirklichkeit verschlossen".
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Absolute Sprachskepsis
Wie kaum ein anderer misstraute Celan der "herkömmlichen" Sprache, der er vorwarf, das Grauen des Holocaust zu verharmlosen:

"Weggebeizt vom
Strahlenwind deiner Sprache
Das bunte Gerede des An-
erlebten - das hundert-
züngige Mein-
Gedicht, das Genicht."

Literaturhinweis; Paul Celan. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Suhrkamp taschenbuch
3202-3208
->   Mehr über das Buch "Masken der Mehrdeutigkeit"
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Mit Szondi gegen Adorno
Hainz relativiert auch das berühmte Diktum Adornos, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben durch den Grundgedanken Szondis: "Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben".
Szondi meint, dass dieses Argument nicht stimme; es geht darum, dass es eine Lektüre AUFGRUND von Auschwitz geben muss!.
Derrida - ambivalent
Hainz sieht zwar in der Interpretation von Derrida eine Art der Willkür, die versucht, das ästhetische Verwirrspiel Derridas auf Celan anzuwenden, sein "Maskenspiel der Genien" mit Textfragmenten von Celan zu verbinden.

Hainz stellt sich die Frage, ob dies zu einem ¿ wie er es nennt ¿ "geglückten Kalkül" führt. Andererseits ist diese experimentelle Annäherungsweise wahrscheinlich der einzig legitime Zugang zu einem Lyriker, der sämtliche Kategorien sprengt.

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1- Dimensionen
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Buchtipp
Das Buch von Martin Hainz "Masken der Mehrdeutigkeit" ist im BraumüllerVerlag erschienen.

Im Jüdischen Museum der Stadt Wien findet eine Ausstellung bis zum 24.Februar statt, die den Titel trägt: "Displaced" - Paul Celan in Wien 1947-48.
->   Jüdisches Museum Wien
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->   Radio Österreich 1
 
 
 
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01.01.2010