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Mythen und Fakten: Volksmeinung zur Biotechnologie  
  Öffentliche Meinung und Expertenmeinung gehen oftmals auseinander - speziell wenn es sich um sensible Bereiche wie Biotechnologie oder gentechnisch veränderte Organismen handelt. Am Schlusstag des Ö1-Zukunftsymposions "Life Sciences" wurden Anregungen gegeben, wie diese Kluft zu überwinden und die Bevölkerung besser in Entscheidungsprozesse einzubinden ist - dabei wurden auch einige Mythen über "die Volksmeinung" zerstört.  
Kulturwissenschaft: Ein Damenprogramm?
Während der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme anmerkte, dass sich die Kulturwissenschaften "als Damenprogramm des Gesamtunternehmens männlicher hard sciences auf Dauer nicht halten, geschweige denn legitimieren" können, gab die einzige Vortragende des Symposions - sozusagen die Dame - durchaus Antworten auf die von den Herren oftmals reklamierten Fragen nach verantwortungsvoller Vermittlung von Wissenschaft.

Claire Marris, französische Doktorin für molekulare Biologie und Professorin für Soziologie, machte Vorschläge, wie die Öffentlichkeit in Sachen Biotechnologie effektiv an einer Diskussion beteiligt werden könnte.
Eklatante Fehleinschätzungen der öffentlichen Meinung
In einem mehrjährigen EU-Projekt hat sie zu den Mythen von Wissenschaftsvermittlung und Partizipation der Öffentlichkeit geforscht. Anhand der umstrittenen Frage nach gentechnisch veränderten Organismen (GVO's) zeigte sie die Unterschiede zwischen dem, was durchschnittliche Menschen - also "Nicht-Experten - über Biotechnologie denken, und dem, was verschiedene Interessensgruppierungen glauben, dass diese Menschen denken.

Diese Unterschiede sind einigermaßen eklatant, so Marris.
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Claire Marris
Ph.D. in Plant Molecular Biology, Univ.-Prof. der Soziologie am Institut National de la Recherche Agronomique, Frankreich
"Public views on GMOs: deconstructing the myths" - der komplette englische Text unter:
->   EMBO Reports 2(7): 545-548.
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Stereotype Einschätzungen
Zu den Stereotypen, die Experten, Regierungen, Biotechnologieunternehmen oder Konsumentenvereine - die besagten Interessensgruppen - in der Öffentlichkeit über die Öffentlichkeit verbreiten, gehören laut Marris: Die Ansichten, dass durchschnittliche Menschen irrational seien und nichts von Wissenschaft verstehen; dass sie sich für "rote Biotechnologie" (Medizin und Pharma) begeistern, während sie "grüne Biotechnologie" (Landwirtschaft) ablehnten; dass sie entweder komplett für oder komplett gegen GVOs und schließlich dass sie durch die Medien schlecht informiert und manipuliert seien.
Überraschendes Argument: Gesellschaft
Kaum etwas davon, so Marris, stimmt mit dem überein, was die "normalen Menschen" der Fokusgruppen wirklich dachten. So zeigte sich eine weit größere Ambivalenz von Pro und Contra bei den Teilnehmern, die scharfe Trennlinie zwischen "guter roter" und "böser grüner" Biotechnologie existierte ebenso wenig wie ein Vorherrschen individueller Motive zur Beurteilung von GVOs.

Im Gegenteil wurde sehr oft mit den "gesellschaftlichen Bedürfnissen" argumentiert, ob Biotech eingesetzt werden solle oder nicht.
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Unbeantwortete Fragen
Die häufigsten Fragen, die von den Fokusgruppen formuliert wurden, waren: Was sind die Nutzen der Biotechnologie? Warum wird nicht besser informiert? Wer hat die konkreten Entscheidungen gefällt? Von wem wurden die Risken einer Freisetzung von GVOs eingeschätzt und wer ist verantwortlich für eventuelle "Unfälle"? Marris' Schluss aus der Vielzahl dieser Fragen: Die Öffentlichkeit ist nicht automatisch gegen eine bestimmte Technologie, sondern sie wünscht sich Antworten auf konkrete Fragen.
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Rote vs. grüne Biotechnologie
Als ein Beispiel eines besonders populären Stereotyps führte Marris die Höherschätzung der roten gegenüber der grünen Biotechnologie an: Die Menschen wären deswegen für medizinische und pharmazeutischen Anwendungen, das sie daraus selbst einen direkten Nutzen gewinnen würden - so das Vorurteil.

Dies ist zwar nicht prinzipiell falsch, so Marris, die Begründungen fallen aber in Wahrheit weit differenzierter aus: So gibt es bei Medikamenten eine bessere Abschätzung von Risiko oder möglichen Nebenwirkungen, die im Gegensatz etwa zu Genmais nicht nur im Begleitzettel aufgelistet sind, sondern auch über eine Vertrauensperson - den Arzt - hinterfragt und erklärt werden können. Zudem habe man bei der Einnahme gentechnisch produzierter Medikamente die persönliche Kontrolle und die freie Wahl.
Experten und Öffentlichkeit: Ein alter Konflikt
Spätestens seit den 1970er Jahren, so Marris, seit den Auseinandersetzungen rund um die Kernkraftbewegung, wird nach den Gründen gesucht, warum "die Öffentlichkeit" in Fragen neuer Technologien oft anders denkt als "die Experten" und wie man diese Meinungen "synchronisieren" könne. Schon dieser Ansatz meint Marris, ist problematisch - und hängt davon ab, welches Bild von Wissenschaft man habe.
Drei Arten von Wissenschaftsverständnis
Zum ersten gebe es das Verständnis der Wissenschaft als ein von der Gesellschaft autonomer Bereich. In ihr sind konsequenterweise öffentliche Einwände illegitim - da aus irrationalen Motiven stammend - und eine öffentliche Beteiligung ist somit auch nicht erwünscht.

Zum zweiten gebe es das Verständnis einer "hot science": von Wissenschaft, die in gewissen "heißen" Diskussionsphasen die Öffentlichkeit beschäftigt und deren Auswirkungen deshalb "bewertet" werden müssen - zumeist wieder von Experten, wie z.B. von jenen meist männlichen Ethikfachmännern der laufenden Bioethik-Debatte.
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Ethischer Diskurs - Chance für die Kulturexperten?
Ähnliches dürfte Hartmut Böhme im Sinn haben, der in seinem Referat nicht nur den von Bedeutungsverlusten geplagten Geistes- und Kulturwissenschaften neue Geltung verleihen wollte, sondern auch konkrete Ratschläge gab. "Ethik ist fortan der Diskurs, in dem gesellschaftlich ausgehandelt werden muss, welches unsere Natur ... in Zukunft sein soll. Hier haben die Kulturwissenschaften die Pflicht, aber auch die Kompetenz, sichtbar und wirksam zu werden," meinte der Kulturwissenschaftler.
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Wissenschaft als Teil der Gesellschaft
Zum dritten gebe es laut Marris ein Verständnis von Wissenschaft als Teil der Gesellschaft. In diesem Wissenschaftsverständnis sind öffentliche Einwände legitim und direkt auf die Produktion wissenschaftlichen Wissens bezogen. Dabei ist es klar, dass sich die impliziten Annahmen über Gesellschaft in der jeweiligen Technologie inkorporieren und dass dieses Wissen die Gesellschaft ebenso prägt wie umgekehrt.
Neuer Anfang oder bereits Fortschritte?
Ob sich dieses letzte und dritte Modell von Wissenschaft durchsetzt, oder ob auch in der Debatte zur Biotechnologie die Experten der diversen Bioethikkomitees für die vermeintliche Einbeziehung "der Öffentlichkeit" sorgen, darüber herrschen unterschiedliche Ansichten.

Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme forderte in diesem Zusammenhang jedenfalls "ein neues Zusammenarbeiten der Natur- und Kulturwissenschaften, aber auch neue Formen der Bürgerbeteiligung und der Mitwirkung von Politik, Recht und Medienöffentlichkeit. Hier stehen wir noch ganz am Anfang."

Ganz am Anfang Gott sei Dank nicht, wie etwa die Arbeit von Claire Marris zeigt, deren Forschungstätigkeiten sich mittlerweile über Jahrzehnte erstrecken.

Lukas Wieselberg
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Hartmut Böhme
Dr. phil., Univ.-Prof. für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt Universität Berlin. Dekan der Philosophischen Fakulttät, Mitglied u.a. der Kleistgesellschaft, der Goethe-Gesellschaft, Vorstand der Hubert-Fichte-Stiftung.
->   Humboldt Universität
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Mehr zum Ö1-Zukunftssymposion "Life Sciences" in science.orf.at:
->   Biotechnik unterm Strich
->   Timothy Hunt: Was ist gute Wissenschaft?
->   Biotech-Standort Österreich: Chancen und Mängel
 
 
 
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01.01.2010