News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Hans Belting entzaubert die Avantgarde  
  Sind Avantgarden tatsächlich die dramatischen Boten den Neuen? Oder radikalisieren sie nur schon da gewesene Konzepte? Im Zuge des Symposiums "Das Jahrhundert der Avantgarden" entzauberte der Kunsthistoriker Hans Belting gleich zum Auftakt das große Getöse avantgardistischer Bewegungen. Bis 1960, so Beltings These, radikalisieren die Avantgarden bloß das Grundkonzept der modernen Kunst - ohne dieses aber über Bord zu werfen.  
Für Belting ist die klassische Moderne - also die Kunst seit 1900 - von einer permanenten Spannung zwischen der Idee und dem Werk geprägt. Auf dem hochkarätig besetzten Symposium des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) zur 'Theorie und Praxis der Avantgarde' in Wien erinnerte Belting an ein Dilemma in der Kunstbetrachtung: die immer noch vorherrschende Orientierung an den Inhalten, den Ideen der Kunst.
->   Das Jahrhundert der Avantgarde (ORF ON Science)
Die Aura klebt am Inhalt
Gerade Theoretiker wie Walter Benjamin hätten im vergangenen Jahrhundert, so die Breitseite Beltings, an der inhaltlichen Fixierung einer musealen Kunstbetrachtung mitgewirkt. Benjamins Aurabegriff habe die Auseinandersetzung mit dem Werk selbst verhindert; dieses sei durch Benjamin wieder dem religiösen Kultbereich zugewiesen worden.
Das Werk und die Grammatik der Avantgarde
Für Belting ist der Begriff des Werkes ganz wesentlich, um die Grammatik der Avantgarden bis 1960 zu bestimmen. Bis zu diesem Zeitpunkt ortet er nämlich die Kontinuität des romantischen Werkbegriffes. Belting verdeutlichte in Wien die in seinem Buch "Das unbekannte Meisterwerk" (1998) aufgestellte These, wonach in der Kunst seit 1800 der Kult des Werkes Oberhand gewonnen habe.
...
Emanzipation von der Idee
Galt in der Kunst der vorangehenden Epoche der Kult der Idee, insofern die Kunst von der Idee göttlicher Gnade, akademischer Regelbeherrschung oder dem Konzept eines besseren Menschen getrieben wurde, so habe sich mit der Romantik die Auffassung von Kunst als Produkt des einsamen Schöpfers durchgesetzt. Belting ist in seiner Theorie zur Autonomisierung der Kunst ein Moment ganz wesentlich: das Heraustreten des "einsamen Schöpfers der Kunst" in den öffentlichen Raum.
...
Dauerspannung zwischen Idee und Material
Für Belting hat die Emanzipation der Kunst von der Religion freilich einen ganz entscheidenden Preis: Die Dauerspannung zwischen der Idee und dem Material. Diese Spannung wird für Belting erst ab 1960 aufgelöst, zu dem Zeitpunkt also, wo seiner Ansicht nach beide Pole durch endgültige Zuspitzung auseinanderfallen. Auf der einen Seite sieht Belting jene Kunst, in der nur noch die Idee gefeiert wird - etwa in der Konzeptkunst. Auf der anderen Seite steht die Objektkunst, in der lediglich das Material noch zählt.

Avantgardistische Bewegungen wie der Kubismus oder der Surrealismus finden für Belting immer noch in dem Spannungsfeld zwischen Idee und Werk statt. Künstler wie Braque oder Picasso hätten sich immer noch am Konzept eines monadischen Werkes abzuarbeiten, in dem die Idee der Kunst aufgehoben ist.
Beispiel Picasso
Belting nennt Picasso als einen der Hauptzeugen für die Radikalisierung dieser Spannung. Etwa wenn sich Picasso in seinem Atelier vor seinen aufgestellten Bildern fotografieren lässt, um mit seinen flächigen Bildern und sich selbst (!) eine Rauminstallation im Medium der Fotografie zu inszenieren.

Bei Picasso, so Belting, verliere das Foto seinen indexikalischen Charakter und werde zum Werk, wenn es etwa den gemalten Gitaristen zeigt, der eine "echte" Gitarrre in der Hand hält. Picasso unterminiert für Belting im Medium der Repräsentation genau jene Repräsentation.
...
Kunsthistoriker im Künstler-Dilemma
Wie selbstverständlich demonstrierte der Kunsthistoriker Belting diese seine These durch die Projektion eines Dias (was ihm schließlich die kritische Zwischenfrage eines Mitdiskutanten einbrachte, der die Thesen Beltings auf die Situation des Kunsthistorikers umlegte).
...
Allegorien des Werkbegriffs
Auch in der ersten Ausstellung der Surrealisten sieht Belting den Werkcharakter noch nicht gebrochen. Selbst wenn in diesem Fall das Werk das gesamte Ausstellungsgebäude war, innerhalb dessen die gesamten Grenzen der Kunst überschritten wurden, so blieb der Alltag doch ausgeschlossen, wurde die Kunst mitnichten Lebenspraxis (etwa im Sinne der Bestimmung der Avantgarde durch Peter Bürger).

Die Austreibung der Kunst aus dem Werk wollte lange Zeit also nicht so recht gelingen. Selbst Jean Tinguely (Homage to New York, 1960), der eine Maschine geschaffen hatte, die sich vor dem Auge des Betrachters selbst zerstörte, wirkt für Belting noch mit am Werkbegriff - auch wenn er, wie in diesem Fall, auf allegorische Weise dargestellt wird.

Beltings Fazit: Die modernen Avantgarden folgen dem romantischen Kunstideal, dessen Utopien sie aktualisierten bzw. radikalisieren.

Gerald Heidegger, ORF.at
->   Hans Belting
->   Rezension zu Hans Belting >Das unsichtbare Meisterwerk<
->   IWM-Symposium: Das Jahrhundert der Avantgarden
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010