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Schmerz und Lust gehen die gleichen Wege  
  Schmerz und Lust sind vielleicht ähnlichere Empfindungen, als man bisher dachte. Denn beide aktivieren laut einer neuen Studie die gleichen Kreisläufe im Gehirn. Sowohl das Schmerzzentrum wie auch das so genannte Belohnungszentrum des Gehirns reagieren demnach auf schmerzhafte Stimuli.  
"Schmerz ist nicht nur eine sensorische, körperliche, sondern auch eine emotionale Erfahrung", sagt der Leiter der Studie Dr. David Borsook vom Massachusetts General Hospital," und genau diese emotionale, psychische Seite des Schmerzes ist so schwer erfass- und messbar."

Daher sind die Ergebnisse der Studie vielleicht der Beginn der Entwicklung von neuen Methoden in der Schmerzbehandlung. Die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Neuron (Bd. 32, S 927-946/kostenpflichtig).
->   Neuron
Bisher nur Reaktionen auf Essen, Geld und Drogen
Aber auch für das Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns könnten die Studienergebnisse wichtige Hinweise liefern. Denn "das Schmerz- und Belohnungszentrum des Gehirns wurden bisher nicht miteinander in Verbindung gebracht", sagt ein Mitarbeiter der Studie, Lino Becerra.

In einigen Regionen des Belohnungszentrums, die normalerweise durch Essen, Drogen oder Geld aktiviert werden, waren die durch den Schmerzimpuls hervorgerufenen Reaktionen völlig unterschiedlich zu jenen, die durch angenehme Empfindungen ausgelöst werden.

Außerdem ist es das erste Mal, dass man Reaktionen des Belohnungszentrums auf Grund von unangenehmen Reizen beobachten und messen konnte, ergänzt Becerra.
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Das ventrale Striatum - Belohnungszentrum des Gehirns
In dem so genannten Streifenkörper des Großhirns, dem ventralen Striatum, werden über "Belohnungsmechanismen" insbesondere die von Motivationen abhängigen Verhaltensweisen kontrolliert. Der dorsale Teil des Striatums erhält Signale von sensomotorischen Bereichen des Cortex und ist Teil der motorischen Funktionsschleife.

Die motorische Funktionsschleife steuert die Auswahl und Ausführung von willkürlichen Bewegungen. Der Nucleus accumbens, die wichtigste Struktur des ventralen Striatums, erhält Signale von präfrontalen Cortexarealen, vom Hippocampus und der Amygdala (Mandelkern) und ist Teil der limbischen Funktionsschleife zwischen Cortex und Basalganglien. Die limbische Funktionsschleife kontrolliert insbesondere motivationsabhängige Aspekte des Verhaltens.
->   Nucleus accumbens
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Die Versuchsanordnung
Mit Hilfe der Magnetresonanzspektroskopie verfolgten die Wissenschaftler bei acht Freiwilligen die Gehirnantwort auf einen schmerzhaften Stimulus.

Die Teilnehmer mussten über ein kleines Wärmekissen auf ihren Händen kurzzeitig schmerzhafte Temperaturen, zwischen 41 und 46 Grad Celsius ertragen. Die unangenehme Wärmebehandlung dauerte 25 Sekunden.
Belohnungszentrum des Gehirns reagiert zuerst
Bei hohen, schmerzvollen Temperaturen wurden nicht nur Vorgänge in den Schmerzregionen des Gehirns gemessen, sondern auch im Belohnungszentrum. Dabei konnten im Laufe des Versuches auch Unterschiede in den Reaktionen der Gehirnregionen festgestellt werden.

So reagierte zur Überraschung der Wissenschaftler das Belohnungszentrum immer unmittelbar und zuerst auf den Schmerzimpuls. Die Reaktionen der Gehirnregionen, die mit der Verarbeitung des Schmerzes assoziiert werden, erfolgte erst später.
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Der Weg des Schmerzes
Schmerzreize werden von so genannten Schmerzfühlern, den Nozizeptoren, erfasst und in elektrische Signale umgewandelt. Die elektrischen Impulse werden über die Nervenfasern in das Zentrale Nervensystem im Bereich des Rückenmarkes und des Gehirns weitergeleitet. Dabei wird die Schmerzstärke durch die Frequenz (Häufigkeit) der elektrischen Impulse dargestellt. Starke Schmerzen bedeuten eine hohe Impulsfrequenz, schwächere Schmerzen werden durch eine geringere Impulsfrequenz übermittelt.

Die Weiterleitung von Schmerzimpulsen aus den Nervenfasern erfolgt über Schmerzbahnen. Diese Schmerzbahnen verlaufen im Rückenmark in Richtung Hirnstamm. Die Nervenfasern aus den unterschiedlichen Körperbereichen, die Schmerzinformationen weiterleiten, enden an speziellen Nervenzellen im Rückenmark. An dieser Stelle übertragen die Nervenfasern die Schmerzimpulse an die Schmerzbahnen. Vom Rückenmark aus werden die Schmerzimpulse über den Hirnstamm, den Thalamus und das limbische System zur Großhirnrinde geleitet. Erst dort findet die Bewusstwerdung des Schmerzes statt.
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Hilfe für chronische Schmerzpatienten
"Ich hoffe, dass wir auf Grund der erhaltenen Resultate auch ein besseres Verständnis für das Phänomen des chronischen Schmerzes bekommen", sagt Borsook. Denn chronische Schmerzen führen zu einer Veränderung in der Wahrnehmung der Patienten.

So berichten viele chronische Schmerzpatienten, dass sie sich an angenehmen Ereignissen nicht mehr erfreuen können. "Sie sind ängstlich, essen nicht sehr viel, werden depressiv und sind manchmal sogar selbstmordgefährdet," meint Borsook.
Weitere Anwendungsmöglichkeiten
"Es hat den Anschein, als ob es bei der Schmerzempfindung um mehr als nur eine simple positive oder negative Reaktion geht," erklärt Borsook. "Möglicherweise ist die Hauptaufgabe des Belohnungszentrums gar nicht so sehr die direkte, aktive Reaktion, sondern vielmehr die Analyse und Bewertung von Reizen, um fest zu stellen, welche für unser Überleben wichtig sind."

Die erhaltenen Daten könnten auch auf dem Gebiet der Medikamentenentwicklung oder Suchtprävention hilfreich sein. So bekommen z. B. viele Schmerzpatienten Opioide über einen langen Zeitraum verschrieben - ohne süchtig zu werden.
Erklärung für masochistische Veranlagung?
Die neuen Erkenntnisse könnten auch eine Erklärung für die ungewöhnliche Reaktion von Masochisten auf Schmerz sein. Möglicherweise ist das Schaltschema der Empfindungsreaktion bei Masochisten auf eine bestimmte Art modifiziert.

Es könnte so sein, dass ein eigentlich unangenehmer Reiz ganz einfach als ein extrem positiver, lohnender Reiz bewertet wird.
->   Massachusetts General Hospital
->   Österreichische Schmerzgesellschaft
->   Schmerz online
 
 
 
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01.01.2010