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Das Jahrhundert der Avantgarden  
  Der Begriff der Avantgarde übernimmt einen Ausdruck der Kriegsführung für die Kunst. Avantgardistische Kunst sollte die Vorreiterrolle für das Neue, das Exzessive, das "Nicht-Normale" übernehmen. Wie dieser Anspruch heute zu bewerten ist, wurde auf der Konferenz "Das Jahrhundert der Avantgarden" am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen diskutiert.  
Zum Selbstverständnis der Avantgarde gehörte es, dass sie sich als militante, radikale Bewegung verstand, die herkömmliche Kunsttraditionen grundsätzlich in Frage stellte - so die Wien tätige Philosophin Cornelia Klinger, die gemeinsam mit dem in Birmingham lehrenden Kulturwissenschafter Wolfgang Müller Funk die Konferenz organisiert hat.
Avantgarde - ein toter Hund?
Dieser Begriff der Avantgarde ist heute obsolet geworden; er ist, um mit Karl Marx zu sprechen, "ein toter Hund", der seinen Provokationscharakter verloren hat.

Die Experimente so unterschiedlicher Künstler wie Tommaso Marinetti, Andre Breton, Antonin Artaud oder Pablo Picasso wirken langweilig; sie können nur noch als kulturgeschichtliches Requisit betrachtet werden.
"Zu blöd für Innovationen"
So meinte etwa der in Stuttgart lehrende Kunsthistoriker Beat Wyss, dass die meisten Vertreter der unterschiedlichen Avantgarden - wie Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus oder Futurismus ein messianischen Sendungsbewusstsein entwickelt haben, das man nur mit einem "großen Gelächter" quittieren kann. Avantgarde war nur so lange nötig - so Beat Wyss - "so lange die Gesellschaft zu blöde war für Innovationen".

Er meinte, Kultur komme von der Straße, Kultur sei immer Subkultur, die so genannte Hochkultur, zu der er auch die mittlerweile mumifizierten Avantgarden zählt, sei völlig steril.
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Hans Belting entzaubert die Avantgarde
Ähnlich argumentierte Hans Belting, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, der in seinem Buch "Bild-Anthropologie" das Konzept der Avantgarde grundlegend kritisiert.

Belting sprach sich für eine Erweiterung des Kunstbegriffes aus; er verwies auf die Bedeutung der elektronischen Medien und die Kunstwerke außereuropäischer Kulturen, vornehmlich afrikanischer Skulpturen, die auch für expressionistische Künstler wie Emil Nolde oder auch für Picasso wichtig waren.
->   Mehr dazu in science.orf.at
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Das Leben als Gesamtkunstwerk
Ziel der Avantgarde war, wie es bereits der französische Schriftsteller Arthur Rimbaud formuliert hatte, "das Leben radikal zu verändern". Das Leben sollte zu einem Gesamtkunstwerk geformt werden, das Kunst und Alltagsleben versöhnen sollte.

Avantgardistische Kunst - so die These - sollte dazu beitragen, das bürgerliche Heldenleben zu durchbrechen, um ein - im Sinne von Friedrich Nietzsche - experimentelles Leben zu führen, das ein "Maximum an Erlebnisintensitäten" zulässt, gleichzeitig aber auch die Versöhnung von Individuum und Gesellschaft betreibt.
Ziel: Radikale gesellschaftliche Veränderung
Der in Bremen lebende Literaturwissenschaftler Peter Bürger versteht die Avantgarde als eine Bewegung, die über das Ästhetische hinaus auf radikale gesellschaftliche Veränderung abzielt, im Sinne des französischen Surrealisten Andre Breton, der dafür plädierte, eine "endlich bewohnbare Welt" zu schaffen.

In seinem Buch "Die Tränen des Odysseus" geht Peter Bürger von der These aus, dass der radikalste Vordenker einer Subversion, wie sie beispielsweise im Surrealismus eines Breton oder Aragon vertreten wurde, vom französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan ausging.
Lacan als "einzig konsequenter Surrealist"
Bürger bezeichnet ihn - ähnlich wie der slowenische Philosoph und Lacan-Dadaist Slavoj Zizek - als "einzig konsequenten Surrealisten", dem es tatsächlich gelungen
sei, die Vereinigung von Kunst und Leben zu verwirklichen.

Lacan habe das surrealistische Projekt aufgenommen, eine tiefgreifende Bewusstseinskrise zu provozieren, im Gegensatz zu den Surrealisten, die sich als subversive Künstler deklarierten, gelang es Lacan, "seinem Subversionsprojekt die Seriosität einer Wissenschaft zu verleihen".
Totalitarismus-Gefahr ...
Dieses Projekt einer radikalen Subversion birgt in sich die Gefahr des Totalitarismus: Ist man davon überzeugt, die "richtige Lebensform" gefunden zu haben, kommt häufig das Gefühl der Intoleranz auf.

Ein Zitat aus dem "Manifest es Futurismus" von Tommaso Marinetti mag dies verdeutlichen: "Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken. Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen".
... oder ironische Provokation?
Der in Budapest lebende Kulturhistoriker und Kleist-Übersetzer Laszlo Földenyi sieht solche Aufrufe nicht zu dramatisch: Für ihn ist diese Provokation nicht ernst gemeint.

Ironische Lust der Provokation, ein gewisses Element zynischer Selbstinszenierung, die Tradition, den bürgerlichen Menschen zu verstören, das sind, meint Földenyi, die Motive einer totalitarismusverdächtigen Avantgarde.
Fazit: Verlust der Faszination
Avantgarde - so lautete der Grundtenor der Vortragenden - hat die Faszination, die von ihr ausging, weitgehend verloren. Was bleibt, ist das Projekt einer historischen Bestandsaufnahme, die das Jahrhundert der Avantgarden dem Archiv der Kunstgeschichte einverleibt.

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Dimensionen am 6. 12. um 19.00 Uhr im Programm Österreich 1.
->   Radio Österreich 1
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen
Mehr zum Symposion in science.orf.at:
->   Anita Traninger: Das Jahrhundert der Avantgarden
 
 
 
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01.01.2010