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Kein 'Gottesteilchen' in Sicht  
  Das "Higgs Boson", das legendäre Teilchen, von dem Physiker denken, es würde erklären, warum Materie Masse besitzt, existiert möglicherweise gar nicht. Dies erklären jetzt Wissenschaftler, die ein Jahr lang Daten aus einem Teilchenbeschleuniger am Forschungszentrum CERN ausgewertet haben.  
Das heftig gesuchte Partikel ist ein zentraler Bestandteil des so genannten Standardmodells der Teilchenphysik. Von manchen Physikern wird es das "Gottes-Teilchen" genannt, da man ihm eine zentrale Rolle zumisst, wie der 'New Scientist' meldet.

Das Standardmodell der Physik erklärt die Ansammlung
fundamentaler Materieteilchen, wie Myonen, Elektronen, Neutrinos und Quarks. Existiert das Higgs Boson nicht, dann würde nach manchen Physikern das Standardmodell gehörig ins Wanken geraten, da die verbleibenden Partikel das Phänomen der Masse nicht zu erklären im Stande sind.
Kein einziger Hinweiß in fünf Jahren Forschung
Die Ergebnisse der von der "Electroweak Working Group" in CERN jetzt vorgelegten Studie sind für die Vertreter des Standardmodells der Elementarteilchen mehr als ernüchternd.

Die Wissenschaftler werteten in den letzten 12 Monaten die Daten aus fünf Jahren Forschung mit dem LEP-Teilchenbeschleuniger (Large Electron Positron Collider) aus, der letztes Jahr seinen Betrieb einstellte. Das Ergebnis: Es fand sich kein einziger Hinweis auf ein Higgs Boson.
->   The LEP Electroweak Working Group
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Das Standardmodell der Elementarteilchen
Versuch der Synthese aller Theorien über die bis heute bekannten Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Grundkräfte. Das Standardmodell ist noch nicht zu Ende entwickelt, bisher lassen sich - mit Ausnahme der Gravitation - alle subatomaren Erscheinungen in mathematischen Formulierungen in das Standardmodell eingliedern. Dieses Modell ist keineswegs endgültig. Mit seiner Hilfe lassen sich die weit über hundert gefundenen Teilchen in elementare mit Spin 1/2 (Fermionen) und Spin 1 (Bosonen) zurückführen.
->   Das Standardmodell der Elementarteilchen
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Woher kommt die Masse?
In den 1960igern konnten Physiker erklären, wie Partikel miteinander interagieren und wie Bindungen zwischen ihnen mittels starker und schwacher Kräfte beschaffen sind. Doch das Phänomen der Masse war damit nicht erklärt.

Deshalb schlug der Physiker Peter Higgs von der 'Edinburgh University' vor, dass der Raum mit einer bestimmten Substanz 'gefüllt' ist - das so genannte "Higgs-Feld" - das sämtlichen Teilchen mittels eines Mediators, dem Higgs Boson, ihre Masse verleiht.

Diese Theorie verursachte eine dreißigjährige Suche nach dem Higgs Boson. Von den Massen der bislang nachgewiesenen Teilchen rechneten die Physiker die hypothetische Masse des "Gottes-Teilchen" hoch, die um die 80 Gigaelektronenvolt (GeV) liegt. Wenn Teilchenbeschleuniger Partikel gegeneinander mit solchen Energie schleudern, so müsste dabei ein Higgs Boson entstehen, folgerten die Physiker.
Große Enttäuschung
"Es scheint nach den vorliegenden Ergebnissen wahrscheinlicher, dass das Higgs Boson nicht existiert, als dass es existiert", kommentiert John Swain von der Northeastern University in Boston die neuen Ergebnisse.

Für viele Physiker bedeuten die präsentierten Daten aus CERN ein herbe Enttäuschung, hatten doch erst letztes Jahr Vertreter derselben Forschungsgruppe etwas voreilig erklärt, dem Higgs Boson "auf den Fersen zu sein".

Die Forscher mussten im nachhinein einen Fehler in der Interpretation ihrer Daten zugeben. Damit war die Sache wieder vom Tisch.
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Teilchenbeschleuniger LEP in CERN
Gerät zur Beschleunigung elektrisch geladener Teilchen auf hohe Geschwindigkeiten für kernphysikalische Experimente. Die Beschleunigung erfolgt in elektrischen Feldern. Die mit einem Teilchenbeschleuniger erzielte kinetische Energie der Teilchen wird in eV (Elektronenvolt) bzw. GeV (Milliarden eV., Gigaelektronenvolt) angegeben. Man unterscheidet Linearbeschleuniger (geradlinige Bahn) und Zirkularbeschleuniger (kreisförmige Bahn, auf der die Teilchen durch magnetische Felder geführt werden).

Das LEP (Large Electron Positron-Collider), ist ein am CERN bei Genf seit 1989 bestehender Speicherring. Die LEP-Anlage ist in einem zwischen 70 und 150 m tiefen Tunnel untergebracht, der 3,8 m im Durchmesser misst und 26,7 km lang ist. Am LEP werden Elektronen und Positronen in einer Hochvakuum-Edelstahlröhre auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und von Ringmagneten auf ihrer Bahn gehalten. An vier Stellen prallen die Teilchen aufeinander. Bei der Kollision entstehen neben schon bekannten Partikeln auch Fragmente bisher unbekannter Elementarteilchen. Sie können Hinweise auf die Struktur der Materie und den Ursprung des Universums geben.
->   Mehr zum LEP IN CERN
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Immer unwahrscheinlicher
Die jetzt überarbeiteten Ergebnisse zeigten, dass die Physiker kein Anzeichen eines Higgs Bosons bei Energien bis zu 115 GeV (Gigaelektronenvolt) entdecken konnten. Damit war der Bereich von 80 GeV, in dem die Higgs Bosonen vermutet werden, schon weit überschritten.

Bereits im Februar dieses Jahres gab es für das Standardmodell durch Physiker des US-amerikanischen 'Brookhaven National Laboratory' in New York einen kräftigen Dämpfer.

Ein winziges Teilchen namens Myon hat sich in den Experimenten der Brookhaven-Physiker als wesentlich magnetischer erwiesen, als das Standardmodell der Elementarteilchen dies vorhersagt.
->   Unerwartetes Ergebnis unterstützt neue Physik-Theorie
Suche nicht aufgeben
Einige Physiker wollen sich allerdings "nicht so schnell geschlagen geben". Frank Wilczek, ein Teilchenphysiker am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston, folgert aus den jetzt präsentierten Resultaten, dass man das Higgs Boson möglicherweise in noch höheren Energiebereichen, um 130 GeV, suchen muss, obwohl die Prognosen es im Bereich von 80 GeV sehen.

"Erst wenn das Higgs Boson bei 130 GeV nicht auffindbar ist, fange ich wirklich an, mich unwohl zu fühlen", so Wilczek.
Gescheitertes Standardmodell?
Mehr und mehr Physiker halten das Standardmodell für problematisch, denn es kann grundlegende Fragen, warum spezifische Partikel eine bestimmte Masse haben, nicht beantworten.

Doch sollte der Fall eintreten, dass das Higgs Boson tatsächlich nichts mehr als graue Theorie ist, dann stehen die Physiker vor dem Problem, keine stringente Theorie zur Erklärung der materiellen Phänomene zu besitzen. Dies behauptet zumindest der Teilchenphysiker Wilczek.

Alternativtheorien wie die Superstringtheorie versprechen allerdings nach Ansicht anderer Teilchenphysiker sehr wohl vielversprechende Einsichten in die Natur der Materie.
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Stringtheorie
Die Strings können - wie die Saiten eines Instruments - in verschiedenen "Obertönen" schwingen und damit die bekannten Elementarteilchen wie Elektronen erzeugen. Jedes Elementarteilchen soll sich nach dieser Vorstellung als bestimmter Schwingungszustand eines Strings interpretieren lassen. Die Strings haben eine charakteristische Länge von nur etwa 10 hoch -35 Meter.
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Entscheidung 2007?
Da die Suche nach dem Higgs Boson und damit die Verlässlichkeit des Standardmodells noch nicht endgültig geklärt ist, müssen kommende Projekte die entscheidenden Antworten liefern .

Möglicherweise wird dazu der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider (LHC), der bis 2007 am CERN gebaut wird, in der Lage sein.
->   Large Hadron Collider, CERN
->   Das schwarze Loch im Teilchenbeschleuniger
->   Teilchenbeschleuniger Department des Brookhaven National Laboratory
 
 
 
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01.01.2010