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Wissenschaft im Zeugenstand  
  Vor Gericht kommt auch die Wissenschaft zu Wort, ihr Sprecher ist der Sachverständige. Was er sagt, hat oft entscheidendes Gewicht. Dabei schneidert sich die Rechtsprechung eine Wissenschaft nach den eigenen Bedürfnissen. Gegengutachten stören da nur.  
Sachverständige: (Un)heimliche Richter
Als (un)heimliche Richter werden sie oft attackiert, die "allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen". Sie sind fehlbar, entziehen sich aber der Kontrolle. Medizinische Sachverständige schützen Standeskollegen, denen Kunstfehler angelastet werden. Psychiatrische Gutachten über mögliche Rückfallgefahren gelten als weniger zuverlässig als die Wettervorhersage.

Die Kritik entzündet sich meist an spektakulären Fällen. Im Mordprozess gegen Jack Unterweger wurden DNA-Analysen infrage gestellt, im Fall Omofuma widersprachen sich die Gutachten: Ersticken oder Herzversagen? Auch das Grubenunglück von Lassing und die Seilbahnkatastrophe von Kaprun führten zu einem medialen Schaulaufen der Sachverständigen.
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Prosaische Wirklichkeit
Die Wirklichkeit ist zunächst einmal viel prosaischer. Verkehrsunfälle werden im Gerichtssaal mit Spielzeugautos nachgestellt, der Lackierermeister muss entscheiden, ob der Motorrahmen sachgemäß verchromt wurde, der Arzt befindet auf Schmerzensgeld verheißendes Schleudertrauma - Routine. Aber die scheinbaren Dutzendfälle haben es mitunter in sich.
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Schwarze Schafe
Rund 12.000 Gutachten hat der Psychiater Heinrich Gross zwischen 1960 und 1980 verfasst. Zwischen 1940 und 1944 war Gross an der "Tötung einer unbestimmten Zahl von Kindern mitbeteiligt", wie das Oberlandesgericht Wien 1981 feststellte. Aber auch danach hat der Träger des Ehrenkreuzes erster Klasse für Wissenschaft und Kunst vielen Angeklagten ihre volle Zurechnungsfähigkeit bescheinigt - bis 1998.

"Unter den 9.000 Sachverständigen gibt es eben auch schwarze Schafe", seufzt Harald Krammer, Präsident des Wiener Zivillandesgerichtes und Spezialist für Sachverständigenrecht.
Der Sachverstand der Sachverständigen soll in Zukunft durch ein regelmäßig durchgeführtes (Re)Zertifizierungsverfahren gesichert werden. Persönliche Integrität wird ebenfalls verlangt.
Schnell und verständlich
Um zu einem Urteil kommen zu können, braucht das Gericht oft ein aussagekräftiges Gutachten. Ist das Bedürfnis nach Expertise groß, trübt sich der richterlich-kritische Blick auf die wissenschaftlichen Fähigkeiten des Sachverständigen. "Fachlich gut, schnell und verständlich soll er sein", definiert der frühere Richter Werner Pleischl: "Gute Sachverständige werden unter Richtern gehandelt wie anderswo Renntipps."
"Haus-, Hof- und Staatssachverständige"
Wer eloquent ist und weiß, was der Richter hören will, wird wie Heinrich Gross wieder und wieder bestellt. "Haus-, Hof- und Staatssachverständige" heißen sie im Gerichtsjargon. Wo es dem Richter an Sachkenntnis fehlt, gleich ob in Finanzbuchhaltung oder Heizungstechnik, kommt der zu Objektivität und Unparteilichkeit verpflichtete Sachverständige zum Zuge.

Für Harald Krammer ist der Sachverständige "ein Erkenntnisinstrument des Richters, seine Augen und Ohren". Alexander Schmidt, Richter am Wiener Bezirksgericht für Handelssachen, findet: "Das ist natürlich auch eine Glaubens- und Vertrauensfrage. Der Richter muss sich darauf verlassen können, dass der Sachverständige redlich ist."
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Keine Forschung im Gericht
In einem Prozess geht es darum, mit vertretbarem Aufwand an Zeit und Geld zu einem Urteil zu kommen. Wissenschaftliche Streitfragen und Endlosdiskussionen unter Experten sind unerwünscht. Nur wenn dem Richter Zweifel kommen, bestellt er einen zweiten Sachverständigen.

Im Strafprozess liegt es im Ermessensspielraum des Richters, ob er ein Privatgutachten zulässt. Für den Wiener Rechtsanwalt Richard Soyer ein unhaltbarer Zustand. Privatgutachten hätten schon oft Licht ins sachverständige Dunkel gebracht: "Wenn die Wissenschaft keine eindeutigen Ergebnisse liefert, muss man Zweifel zulassen. Den Juristen fehlt dafür oft das Problembewusstsein."
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Privatgutachten bald zulässig
Auch immer mehr Richter und Staatsanwälte sprechen sich für die Zulassung von Privatgutachten im Strafprozess aus. Der Meinungswandel hat seinen Niederschlag bereits im derzeit vorliegenden Entwurf des Strafprozessreformgesetzes gefunden, wonach Privatgutachten künftig "als Beweis verwendet" werden können.

"Alles, was der Wahrheitsfindung dient, soll auch Verwendung finden", findet Otto Müller. Der ehemalige Generalprokurator der Republik hält den Einwand der Parteilichkeit und der Käuflichkeit für nicht stichhaltig: "Auch Privatgutachter sind zur Wahrheit verpflichtet und haftbar."
USA: Gutachterschlachten
Damit nähert man sich angloamerikanischen Verhältnissen an - aber nur ein klein wenig. Das kontinentaleuropäische Rechtssystem bleibt richterzentriert und geschlossen. Im offenen, marktähnlichen System der USA berufen die Parteien die Sachverständigen - wobei es vom Geldbeutel abhängt, ob und welche Experten man sich leisten kann. Vor Gericht kommt es dann zu regelrechten Gutachterschlachten.

Direkt lügen dürfen Gutachter auch in den USA nicht, doch Belastendes verschweigen sie. "Das Legal Team ist eine Art Suchmaschine, um das zu finden, was den Fall gewinnen könnte", erklärt die US-amerikanische Wissenschaftsforscherin Sheila Jasanoff. Die Harvard-Professorin ist selbst studierte Juristin und beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema Wissenschaft bei Gericht.
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Jasanoff gibt auch Kurse für Richter und weiß daher um deren Dilemma: "Einerseits sehen sie, wie angreifbar einzelne Expertisen sind, andererseits befürchten sie, dass sie am Ende überhaupt keine Kriterien mehr haben, anhand derer sie entscheiden können." Jasanoff versucht ihnen verständlich zu machen, dass auch wissenschaftliches Wissen das Ergebnis von Aushandlungen ist.
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Unabschließbare Forschung
Wettbewerb zwischen Expertisen gibt es nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch im Labor. Hier wie dort bestimmen Zeit und Geld mit, was möglich ist. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass der Prozess der Forschung unabschließbar bleibt, während der Prozess bei Gericht entschieden werden muss.

Die Parteilichkeit der Expertisen bedeutet für Jasanoff nicht unbedingt, dass "litigation science", also die Prozesswissenschaft, schlechte Wissenschaft ist. Im Gegenteil. Die Kontroversen um die DNA-Gutachten im Prozess gegen O.J. Simpson haben der Forschung selbst neue Anstöße gegeben.

Oliver Hochadel, heureka
->   Hauptverband der Sachverständigen
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Die Langfassung dieses Textes erscheint am 12.12. in "Wissenschaft und Recht", der neuesten Ausgabe von "heureka", der Wissenschaftsbeilage des "Falter". Weitere Themen sind u.a.: "Genetischer Fingerabdruck", "Lukrative Rechtswissenschaft" und "Unrechtmäßige Aneignung".
Alle Beiträge finden sich ab 12.12. auch auf der heureka-Homepage.
->   Heureka
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->   Falter
 
 
 
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01.01.2010