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Kulinarische Physik: Die Weihnachtsgans aus dem Labor  
  Kochen, braten, backen, dünsten - allesamt Beispiele für angewandte Physik - haben nun ihren Platz am renommierten Institut für Experimentalphysik der Universität Wien gefunden. Während dort die Wissenschaftler sonst mit Phänomenen wie der Quantenteleportation befasst sind, steht zu den Feiertagen das Forschungsgebiet "Kulinarische Physik" am Speiseplan.  
Physik mit Nährwert
Keine Angst - mit Kalorienzählen, Gentechnik, Retortenfleisch, oder futuristischen Nahrungssurrogaten aus dem Reduplikator a la Star Trek hat die kulinarische Physik nichts zu tun.

Es geht um die Aufdeckung des naturwissenschaftlichen Backgrounds konventioneller Kochrezepte. Und wer erst einmal die Zusammenhänge versteht, braucht kein Kochbuch mehr nachzubeten. Mit physikalischem Rüstzeug für Freiheit und Phantasie in der Kochkunst - ein Forschungsansatz ganz im Sinne der Aufklärung.
Kochen ist Naturwissenschaft
Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit Naturphänomenen. Es werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen Messgrößen (zum Beispiel der Temperatur und der Bratdauer) hergestellt. Zuerst werden Hypothesen aufgestellt: Wie verhält sich ein System unter bestimmten Umständen.

Danach werden die Hypothesen mit einem Experiment überprüft. Wenn sich mehrere Hypothesen als richtig herausgestellt haben, dann werden Sie zu einer Theorie zusammengefasst. Nicht anders beim Kochen!
Experimentierfeld Küche
Man stellt sich die Frage, ob denn dieses oder jenes Gewürz zu dieser oder jener Speise passt, oder ob man den Kuchen vielleicht nicht doch 10 Minuten länger im Rohr lassen sollte. Kochen bedeutet im Grunde ständiges experimentieren. Messgerät: Nase, Zunge und Gaumen.

Wobei natürlich eine der Anforderungen der Naturwissenschaft zu kurz kommen muss: exaktes Messen - objektivierbare Daten. Geschmack ist nun einmal keine objektivierbare Größe ...
Erst aufgedeckt, dann aufgetischt
... könnte das Motto des Wiener Neurophysikers Werner Gruber sein, der die naturwissenschaftlichen Erklärung von Kochrezepten zu seinem Leib und Seelenthema gemacht hat. Dabei ist sein eigentliches Forschungsgebiet eher kopflastig: Er versucht mit mathematischen Modellen neuronale Prozesse zu erfassen, die die Grundlage für "künstliche Intelligenz" bilden.
->   BRAIN-Modelling, Universität Wien
Die Entschlüsselung kulinarischer Phänomene steht an zweiter Stelle, wird aber um nichts weniger leidenschaftlich betrieben. Vorlesungen mit Themen wie "Das Gulasch schlägt zurück" - sind in der Reihe "university meets public" (UMP) - zu echten Publikumsmagneten geworden.
->   Die Vorlesungen von UMP
Forschungsfeld Wiener Küche
Im Gegensatz zu seinen internationalen Kollegen , wie etwa dem prominenten Molekulargastronomen Hervè This-Benkhard, der sich der "Großen Küche" verschrieben hat, beschränkt sich Gruber auf bodenständiges. Sein Forschungsfeld ist die so genannte Wiener Küche: ein buntes Konglomerat von Speisen aus allen Teilen der Habsburgermonarchie.

Ein weites Feld, sagt der Physiker, der auch meint, dass die Wiener Küche zu Unrecht aus der Mode gekommen und von den Tischen verschwunden sei. Ganz der Tradition verpflichtet, sind für ihn Weihnachten kein Fest, wenn es keinen Gänsebraten gibt - zubereitet natürlich streng wissenschaftlich!
Zuviel Sport macht zäh
Schon beim Einkauf zeigt sich der Wissenschafter kritisch gegenüber dem neuen Biotrend. Statt einer Freilandgans kommt bei ihm die altbewährte, hafergefütterte Mastgans ins Rohr. Aus einem einfachen Grund: Freilandgänse sind keine Standardware und deshalb aus naturwissenschaftlicher Sicht schwer zu beschreiben.

Manche Freilandgänse sind faul, manche sind richtig sportiv. Ein Tier das sich viel bewegt, wird mehr Kollagen bilden. Dieses Kollagen sorgt für die Zähigkeit des Fleisches. Das heißt, sportliche Gänse haben eine ausgeprägte Kollagenstruktur und müssen daher länger braten als faule Gänse.
Backrohrtemperatur: Der schwierige Mittelweg
Wenn es an die Zubereitung geht, stellt sich als erste Frage die der Backrohrtemperatur. Wichtig ist dabei, dass ausreichend Wärme ins Innere der Gans gelangt. Diese Innentemperatur sollte zwischen 70 und 80 Grad Celsius liegen.

Dann ist das Eiweiß bereits "geronnen", das Kollagen beginnt sich aufzulösen: Das Fleisch wird zarter. Umgekehrt darf die Innentemperatur nicht zu hoch sein. Die Folge wäre, dass sich die Kollagenfasern zusammenziehen, der Fleischsaft wird regelrecht herausgepresst. Die Gans wird trocken und zäh.
Herausforderung Garzeit
Die Bratdauer hängt grundsätzlich von der Größe der Gans und der Backrohrtemperatur ab. Entsprechende Faustregeln finden sich in jedem Kochbuch.

Für die wissenschaftliche Annäherung an den Festtagsbraten ist das natürlich zu wenig. So hat Werner Gruber eine Formel entwickelt, die alle wichtigen Parameter in sich vereint und tatsächlich zu perfekten Ergebnissen führt.
Die Kubatur der Gans
 


Abschreckend ist die Formel nur beim ersten Hinschauen, meint der Physiker. Mit einem Taschenrechner sei die Lösung kein Problem. Voraussetzung für die Berechnung ist die Kenntnis der Masse der Gans (= Gewicht) m und die Backrohrtemperatur TBA.

Die Innentemperatur T Zentrum wird mit 75 Grad als fixe Größe angenommen. Eine fixe Größe ist auch Kappa - die von Gruber in seinen vielen Experimenten als Materialkonstante für die Gans bestimmte Zahl: 0,0008526 . Wobei auf ein zwei Kommastellen durchaus zu verzichten wäre.

Das Ergebnis der Rechenoperation liefert die Bratzeit für eine gefüllte Gans in Minuten. Aus Erfahrung ist für eine ungefüllte Gans mit kürzerer Bratzeit zu rechnen: Ein Drittel weniger - hier akzeptiert auch der Kulinarphysiker die Faustregel. Für eine Gans von drei Kilogramm wurde bei 220 Grad Backrohrtemperatur übrigens eine Garzeit von 146 Minuten errechnet!
Die Gans der 4 "Geschmäcker"
Um der Gans zusätzlichen Geschmack zu geben, könnte man sie in eine Beize legen - eine Anwendung der Osmose. Leider legt die Beize im Fleisch nur rund 10mm pro Tag zurück. Bis sie das Geflügel komplett durchzogen hätte, würde dies sehr lange dauern - gut eine Woche.
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Osmose
Fleisch oder auch Gemüse besteht aus Zellen. Diese Zellen sind in der Regel von einer Membran umgeben, die zwar das Wasser in beiden Richtungen durchlässt, nicht aber bestimmte Stoffe, wie zum Beispiel Salz oder auch Zucker. Das Wasser ist aber bestrebt, die Konzentration der gelösten Stoffe im Inneren und im Äußeren auszugleichen. Wenn also die Stoffe (Zucker oder Salz) nicht durch die Membran wandern können, so versucht das Wasser die Konzentrationsunterschiede auszugleichen. Dieser Effekt ist für das Kochen von Fleisch wichtig, oder wenn Obst eingeweckt wird.
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Die Politik der tausend Nadelstiche
Mit einer, medizinisch gesehen, intramuskulären Injektion lässt sich das Verfahren abkürzen: Die Gans wird mit geschmacksaktiven Stoffen regelrecht geimpft. Mit gezielten Injektionen lassen sich unterschiedliche Geschmackszonen herstellen.

Positive Nebenwirkung: Bei Verwendung geeigneter "Impfstoffe" wird das Fleisch zarter. Zum Beispiel lösen frischer Ananas- und Feigensaft auch Kollagenfasern auf. Das dabei aktive Enzym Papain benötigt allerdings auch etwas Zeit, zumindest ein paar Stunden. Leider wird dieses Enzym bei höheren Temperaturen zerstört.

Dosensäfte sind also, weil pasteurisiert, ungeeignet. Der Saft muss frisch sein und darf nicht erhitzt werden. Geeignetes Impfgerät: 5ml Einweg-Spritzen + Injektionsnadeln (rund 1-1.5 mm lichte Weite ), erhältlich in jeder Apotheke.
Das Geheimnis der braunen Kruste
Trotz aller Injektionen und sonstiger Einreibungen bekommt die Gans - wie jeder andere Braten - ihren besonderen Pfiff eigentlich erst in den letzten Minuten. Bei großer Hitze entstehen an der Oberfläche jene besonderen Aromamoleküle, die dem Gänsebraten die schöne braune Farbe geben.Verantwortlich dafür ist die so genannte Maillard Reaktion.
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Maillard Reaktion
Die Maillard Reaktion (benannt nach Louis-Camille Maillard, Arzt): Bei hohen Temperaturen reagieren Zuckermoleküle und Aminosäuren miteinander, es bilden sich Geschmacksmoleküle. Diese Moleküle können unterschiedliche Ausprägungen besitzen - dadurch entstehen unterschiedliche Geschmacksstoffe. Die Reaktionen sind sehr komplex und viele Details wurden bis heute nicht enträtselt. Die Kruste entsteht dadurch, dass Wasser auf der Oberfläche verdampft wenn es heiß wird. (Wasser verdampft bei Temperaturen höher als 100°C). Die Kruste entsteht nicht durch das Schließen von Poren - die gibt es nicht.
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Initialzündung für die Maillard Reaktion: Eine zuckerhaltige Lösung (es kann auch Honig sein), mit der die Gans eingepinselt wird. Und dann 10 Minuten bei voller Hitze ins Rohr ...
Ruhe vor dem Sturm
Ein letzter Trick aus dem Schatzkästlein der Kulinarischen Physik: Die Gans sollte nach Ablauf der Bratzeit erst einmal ruhen. Zumindest gute 10 Minuten - und das außerhalb des Backrohrs. Keine Angst - dabei wird sie sich nicht verkühlen. Der erzielte Effekt: Die trotz aller Mühe hartnäckig gebliebenen Kollagenfasern werden sich entspannen - das Fleisch gewinnt zusätzlich an Zartheit.

Zur Gans, sollte sie nicht gefüllt sein, wären Knödel die perfekte Beilage. Zum Wissen um die Zubereitung der Knödel hat die kulinarische Physik allerdings bisher noch nichts beigetragen. Es empfiehlt sich die Konsultation einschlägiger Kochbüchern.

Das Phänomen spontan detonierender platzender Knödel stellt sich Werner Gruber als nächste Herausforderung. Wenn auch keine Erklärung, so hat der Kulinarphysiker zumindest schon einen Titel für sein Projekt: "Vom Vulkanismus der Knödel".

Gerhard Roth, Modern Times
->   Kulinarische Physik: Die Physik des Kochens
->   Modern Times
 
 
 
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01.01.2010