News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Wannsee-Konferenz: Die Planung des Holocaust  
  Unter Führung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich traf sich am 20. Jänner 1942 die NS-Ministerialbürokratie bei der so genannten Wannsee-Konferenz. Dabei wurde der Massenmord an den europäischen Juden geplant und koordiniert. Die Konferenz, die "die ganze Perversion des Nazi-Systems verdeutlicht", wie es der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder formulierte, jährt sich heuer zum 60. Mal.  
Organisation der Deportation und Ermordung
"In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird." Dieser Satz stammt aus dem von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann produzierten, 15-seitigen Protokoll über eine Konferenz in einer Villa am Wannsee in Berlin am 20. Jänner 1942.

An dem Tag trafen sich unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich 14 Spitzenbeamte der Ministerialbürokratie und der SS in dem SS-Gästehaus am Wannsee. Sie verhandelten über die organisatorische Durchführung der Entscheidung, die Juden Europas in den Osten zu deportieren und zu ermorden.
Einzigartiges Dokument des Völkermordes
Das Dokument wurde 1947 in den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes gefunden. Seitdem gilt es als Schlüsseldokument der Geschichte des Völkermordes an den europäischen Juden. Kein anderes Dokument zeigt die Bereitschaft der Nazis zum Völkermord in so komprimierter Form.

"Ein weiterer derartiger Beleg für einen großen Gesamtplan oder zumindest für eine Absichtserklärung zur Begehung eines ungeheuren Staatsverbrechens als Ergebnis einer Dienstbesprechung von Staatssekretären und SS-Führern ist bisher nicht aufgefunden worden", erklärt Norbert Kampe, Leiter des Hauses der Wannsee-Konferenz.
->   Das Wannsee-Protokoll
Heydrichs Schlüsselrolle für den Holocaust
Heydrichs Ziel als Chef des Reichssicherheitshauptamtes war es, sich seine alleinige Führung bei antijüdischen Maßnahmen von den Ministerien bestätigen zu lassen. Mit seinem Konzept stieß er bei den Teilnehmern auf allgemeine Zustimmung und die Bereitschaft, bei der Umsetzung mitzuwirken.
...
Reinhard Heydrich
Reinhard Heydrich, 1904 in Halle geboren, trat 1931 in die NSDAP und die SS ein. Im Juli 1932 beauftragte ihn SS-Führer Heinrich Himmler mit dem Aufbau des Sicherheitsdienstes zur Beobachtung politischer Gegner. Im Juni 1936 wurde er Chef der Sicherheitspolizei, im Oktober 1939 Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Ende Juli 1941 erhielt er den Auftrag zur Vorbereitung einer "Gesamtlösung der Judenfrage". Auf der Wannsee-Konferenz hielt er ein Referat über die Gesamtplanung des Massenmords an elf Millionen Juden durch ihre Deportation "nach dem Osten". Am 4. Juni 1942 starb er an den Folgen eines Attentats tschechoslowakischer Widerstandskämpfer.
...
Zynische Sprache der Bürokraten
Im Protokoll selbst - das von Alt- und Neonazis als Fälschung verunglimpft wird, an dessen Echtheit die seriöse Forschung jedoch nicht zweifelt - wird zwar nicht offen von Mord an den Juden gesprochen.

Stattdessen ist es in einer bewusst verschleiernden, verklausulierten Sprache verfasst, die häufig unfassbar zynisch klingt. So ist die Rede davon, dass ein Teil der Juden "entsprechend behandelt" werden müsse, "da dieser eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist".
Eichmann redigierte drastischer Urfassung
Eichmann erklärte 1960 in Israel, dass das Protokoll nicht dem genauen Wortlaut der auf der Konferenz abgegebenen Erklärungen entspreche. Vielmehr habe er das Protokoll auf Drängen Heydrichs erheblich redigieren und mehrfach umschreiben müssen. Die Konferenzteilnehmer hätten sich einer weit drastischeren Sprache bedient und offen über verschiedene Techniken des Massenmordes gesprochen.
...
Adolf Eichmanns Banalität des Bösen
Adolf Eichmann zog als Kind mit seiner Familie nach Linz. Er trat 1932 der österreichischen NSDAP bei und kam 1934 nach Berlin in ein Juden-Referat des Sicherheitsdienstes. 1938 wurde er Chef der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien. Über Prag kam er 1939 als Leiter des Judenreferats ins Reichssicherheitshauptamt und organisierte die Transporte in die Vernichtungslager. Er war Protokollführer bei der Wannsee-Konferenz.

Nach dem Krieg floh Eichmann nach Argentinien, wo ihn der israelische Geheimdienst 1960 aufspürte und nach Israel entführte. Dort wurde er am 15. Dezember 1961 vor Gericht gestellt und unter anderem wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk zum Tode verurteilt und am 1. Juni 1962 hingerichtet.
...
Überblick über bisherige Judenverfolgung
Heydrich gab außerdem - so ist im Protokoll nachzulesen - einen Überblick über die bisherige Judenverfolgung. War bisher geplant, die Juden aus dem deutschen "Lebensraum" zu vertreiben, so ergaben sich mit dem Krieg gegen die Sowjetunion neue Möglichkeiten. Für die "Endlösung" kämen elf Millionen Menschen in Betracht, ist zu lesen.

Zunächst sollten die Juden in "Durchgangsgettos" gebracht werden, von wo aus sie später weiter nach Osten transportiert würden. Nach Ansicht von Historikern sollten die verschleppten Menschen durch Zwangsarbeit zu Grunde gerichtet und die Überlebenden ermordet werden.
...
Größte Holocaust-Ausstellung Deutschlands
Anlässlich des Jahrestags wurde am 16. Jänner die bisher in Deutschland umfassendste Ausstellung über den Holocaust eröffnet. Im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin dokumentiert die Multimedia-Ausstellung "Holocaust - Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung" (bis 9. April) die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sowie die Aufarbeitung des Genozids im Nachkriegsdeutschland.
->   Die Holocaust-Ausstellung am DHM
...
Streit um "Mischlingsproblem" ...
Des Weiteren definiert das Protokoll, welche Menschen deportiert werden sollten. Heydrichs Ziel war es, auch "Mischlinge ersten Grades" (Menschen mit einem jüdischen und einem nicht-jüdischen - im Nazi-Jargon "arischen" - Elternteil) zu verschleppen. Dem widersprach der Staatssekretär des Reichsinnenministeriums. Er schlug stattdessen Zwangssterilisierung der "Mischlinge" vor.
... rettete Hunderttausende
Da bei der heute so genannten Wannsee-Konferenz keine Einigung über die "Mischlingsfrage" erzielt werden konnte, wurde sie auf Nachfolgekonferenzen vertagt. Auf ihnen wurde ebenfalls keine Lösung gefunden. Das lag daran, dass die Krankenhäuser keine Aufnahmekapazitäten mehr hatten, da sie mit Verwundeten belegt waren. Deshalb vertagte man das "Mischlingsproblem" auf die Zeit nach dem "Endsieg". Das rettete hunderttausenden Menschen das Leben.
...
Neues Buch erschienen
Pünktlich zum Jahrestag erschien das Buch "Die Wannsee-Konferenz" im Propyläen-Verlag. Der britische Historiker Mark Roseman präsentiert darin neue Erkenntnisse über die Planung des Holocausts. Roseman zufolge diente die Wannsee-Konferenz sowohl zur Machterhaltung Heydrichs, aber auch zur bürokratie-internen Verbreitung des Ziels, die Juden zu vernichten.
->   Das Buch
...
->   Haus der Wannsee-Konferenz
->   Die Wannsee-Konferenz
Mehr Informationen über diese Thema finden sie in science.orf.at unter:
->   Ein "Holocaust-Erinnerungsort" in Europa: Die Villa-Marlier
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010