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Ernährung nicht für Schädel-Evolution wesentlich  
  Unter allen Primaten ist der Homo sapiens mit dem kleinsten Kauapparat und dem größten Gehirnschädel ausgestattet. Nach einer gängigen Theorie entfaltete sich das menschliche Gehirn gleichzeitig mit der Rückbildung des Kauapparates, wodurch das Gehirn mehr "Platz" für die eigene Entwicklung vorfand. Doch eine neue Vergleichsstudie an Menschenaffen widerspricht dieser Ansicht. Demnach scheint die Ernährung nur eine untergeordnete Rolle bei der Entwicklung des Kauapparates und damit des menschlichen Gehirnschädels zu spielen.  
Die berichten Andrea Taylor von der Duke University in Nord-Carolina in der Februar-Ausgabe des "American Journal of Physical Anthropology".
Artikel im "American Journal of Physical Anthropology" (Masticatory form and function in the african apes; kostenpflichtig)
->   Artikel im "American Journal of Physical Anthropology"
Gebiss-Anatomie und Nahrungsspektrum
Die US-Anthropologin analysierte die Gebiss-Anatomie sowie die Nahrungsgewohnheiten unserer nächsten Verwandten in Afrika, der nichtmenschlichen Primaten wie Gorilla und Schimpanse.

Der in Bergregionen beheimatete Gorilla (Gorilla gorilla beringei) hat ein eher eingeschränktes Nahrungsspektrum: kräftige Blätter, Baummark, Rinde und Bambus-Sprösslinge beanspruchen seinen Kauapparat in hohem Maße.

Der Flachland-Gorilla (Gorilla gorilla gorilla) kann dagegen auf eine breitere Nahrungspalette zurückgreifen, das sind in erster Linie am Boden wachsende Pflanzen, aber auch eine große Auswahl an diversen Früchten.
Obstliebhaber Schimpansen
Deutlich anders ernähren sich im Vergleich zu den Gorillas die Schimpansen. Sie verspeisen in erster Linie Obst und greifen auf andere Pflanzenbestandteile, aber auch auf tierische Nahrungsquellen (Termiten) seltener zu.

Noch diskutieren Anthropologen darüber, ob sich der als Zwerg-Schimpanse bekannte Bonobo (Pan paniscus) deutlich in seinen Nahrungsgewohnheiten von seinen nahen Schimpansenverwandten (Pan troglodytes) unterscheidet, d.h. ob er nicht doch eher größere Mengen an bodenwachsenden Kräutern verspeist.

Die Form des Bonobo-Schädels unterscheidet sich jedenfalls von der des Pan troglodytes, von dem er sich vor 1,8 Millionen Jahren evolutionär getrennt hat.
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Menschenaffen
Primaten, deren Anatomie dem Leben in Bäumen angepasst ist; hierzu gehören Gorilla, Schimpanse und Orang-Utan. Im Unterschied zu den als Kleine Menschenaffen bezeichneten Gibbons auch Große Menschenaffen genannt. Die Jungen der Menschenaffen weisen in der Schädelform menschenähnliche Züge auf, die mit zunehmendem Alter allerdings immer affenartiger werden, indem die Schnauzenpartie im Gegensatz zum Stirnschädel stark wächst. Auch die Überaugenwülste und die platte Nase sowie die starke Behaarung auch des Gesichts treten immer deutlicher hervor. Die Menschenaffen fressen hauptsächlich Sprossen, Pflanzenbestandteile und Früchte, aber auch kleinere Säuger (Affen) und leben meist in familienartigen Gruppen. Auch Kannibalismus ist bekannt. Jeden Abend legen sie Schlafnester aus Blättern und Zweigen in Baumkronen an.
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Verhältnis Kauapparat zu Schädel
Andrea Taylor verglich bei allen Arten von Menschenaffen das Verhältnis des Kauapparates zum Rest des Schädels.

Aufgrund des größeren Kraftaufwandes und einer verlängerten Mahlzeit beim Zerkleinern von harter Nahrung erwartete die Anthropologin nach der gängigen Theorie erhebliche Unterschiede zwischen Blattfressern und Obstliebhabern.

Taylor fand zwar bei den Berg-Gorillas eine vergrößerte Kinnlade und Kinnfuge sowie eine stärkere Ausbildung des Kaumuskels. Allerdings können diese Merkmale auch von einer Anpassung an den übrigen Schädel herrühren. Darüber hinaus sind sie auch nicht gleichmäßig bei allen Individuen ausgeprägt.
Ernährung nicht allein für Körperunterschiede verantwortlich
Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse dürfte die Annahme, dass sich das menschliche Gehirn gleichzeitig mit der Rückbildung von Kiefer und Kaumuskulatur entfaltete, kaum haltbar seien.

"Unsere Ergebnisse zeigen zwar, dass einige Körpermerkmale vielleicht mit den Nahrungsunterschieden der afrikanischen Menschenaffen zusammenhängen. Als einziger Grund für diese Abweichungen in der Körpergestalt scheidet die Ernährung jedoch aus."

Für die Vergrößerung des menschlichen Gehirnschädels müssten andere Einflüsse wie eine veränderte Umwelt in Betracht gezogen werden, so die Anthropologin.
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Evolution und Anatomie des menschlichen Schädels
Zunächst entstand der Knorpelschädel bei Knorpelfischen (Haie), dann das knöcherne Skelett des Wirbeltier-Kopfes, das zunächst aus zwei Teilen bestand: der Kapsel, die Gehirn- und Sinnesorgane umgibt, und den Skeletteilen, die paarig die Mundhöhle und den vorderen (Kiemen-)Darm umgeben. In der Wirbeltierevolution erfolgte eine zunehmende Verschmelzung der Teile.

Der Schädel des Menschen besteht aus Gehirn- und Gesichtsschädel. Der Gehirnschädel besteht aus zwei Schläfen- und Scheitelbeinen, dem Stirn-, Hinterhaupts-, Sieb- und Keilbein; an der Schädelbasis aus Keilbein, Schläfenbeinen und Hinterhauptsbein, treten die Gehirnnerven aus, durch das Hinterhauptsloch tritt das Mark in den Rückenmarkskanal ein; die Schädeldecke überwölbt die Schädelhöhle, die das Gehirn enthält. Der Gesichtsschädel besteht aus je zwei Nasen-, Tränen-, Muschel-, Oberkiefer-, Gaumen- und Jochbeinen sowie dem Pflugscharbein. Hinzu kommen Unterkiefer , Zungenbein und die Gehörknöchelchen im Mittelohr. Die Schädelknochen sind durch Knochennähte verbunden, die nach und nach vollständig verknöchern.
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Zu einseitige Betrachtung
In eine ähnliche Kerbe schlägt der in Madrid lebende und arbeitende, österreichische Anthropologe Markus Bastir. Denn er sieht den Fehler in der vorliegenden Theorie vor allem darin, dass diese zu wenige andere Faktoren mitberücksichtigt.

"Das 'cranio-mandibuläre System' (die funktionelle und entwicklungsgeschichtliche Einheit des Säugerschädels), also auch das von Primaten, ist und war vielen Einflüssen ausgesetzt. Darunter befinden sich die eigenen Wachstumsbedingungen des Gehirns, der Schädelbasis und deren Architektur genauso wie die phylogenetische Gehirnentwicklung", so Bastir gegenüber science.orf.at.

"Aber auch die absolute und relative Körpergröße, die aufrechte Körperhaltung, funktionelle Eigenschaften der im Schädel lokalisierten Organsysteme, Augen, Ohren, Geruchsinn und Nahrungsaufnahme müssen in der Analyse berücksichtigt werden", erklärt der Experte weiter.
Vereinfachter Ansatz erleichtert Darstellung
Für den Anthropologen Bastir ergibt sich daraus, "dass der biomechanische Ansatz ein wichtiger, jedoch - für sich allein - nicht ausreichender Einfluss auf die Schädelform der Hominiden (also, unserer Vorfahren und uns selbst) sein kann. Das ist das Ergebnis der besagte Studie (von Andrea Taylor, Anm.)."

"Die aufgestellte Hypothese des Primatenschaedels als mechanisches Hebelsystem ist eine methodische Vereinfachung für die evolutionäre Beobachtung, dass sich das menschliche Gehirn gleichzeitig mit der Rückbildung von Kiefer und Kaumuskulatur entfaltete".

Es ist für Bastir ein simplifizierender Ansatz, "der das Erstellen und Testen eines Vorhersagemodells erleichtert. Er stammt - glaube ich - aus den Zeiten des Neo-Darwinismus (60er und 70er Jahre)."
'Mechanistischer Ansatz'
"Man sagte damals: der Organismus ist ein beliebig zerteilbares Konglomerat, an dem die natürliche Selektion vor allem mechanistisch ansetzt. Dadurch verbesserten sich die evolutionären Überlebenschancen der (je nach Radikalität) Gene, Individuen oder Arten", so Bastir.

"Es gibt immer mehr Hinweise - auch in der paläoanthropologischen Forschung - für das hohe Niveau an organismischer Integration, also an wechselseitigen Abhängigkeiten von Subsystemen, die monokausale Modelle (also: das menschliche Gesicht als Hebelsystem) zusehends in Frage stellen. An dieser strukturalistischen Sichtweise ist übrigens auch der Kreis um den Wiener Biologen Rupert Riedl wesentlich beteiligt", resümiert der Anthropologe.
->   Duke University Medical Center
->   Homepage von Markus Bastir
 
 
 
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01.01.2010