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Raymond Klibansky: Bekenntnis zum Humanismus  
  Das Wesen des Menschen zu erforschen ist das Leitmotiv des Universalgelehrten Raymond Klibansky. Toleranz, Freiheit und Menschenrechte standen im Zentrum seiner Arbeiten. Unermüdlich publizierte und interpretierte er philosophische Werke, die diesen Prinzipien verpflichtet waren.  
Philosophisch-politischer Einblick in das 20. Jahrhundert

Klibansky bekämpfte aktiv den Nationalsozialismus und setzte sich für politisch verfolgte Intellektuelle ein.

In einerm vor kurzem erschienenen Buch spricht der nunmehr 96-jährige Philosoph über seine Lebenserinnerungen, die einen faszinierenden Einblick in die philosophischen und politischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert vermitteln.
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Erinnerungen im Gespräch
Raymond Klibansky: Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux. Insel Verlag, 2001.
Georges Leroux ist Professor der Philosophie an der Université de Québec in Montreal (UQAM) und ehemaliger Schüler von Raymond Klibansky.
->   Mehr über das Buch
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Nikolaus von Kues - ein wissenschaftliches Projekt
Im Zentrum der philosophischen Forschungen Klibanskys stand das Werk des Kardinals Nikolaus von Kues - für Klibansky d e r entscheidende Denker, der mittelalterliche Scholastik und Renaissance-Philosophie vermittelte.

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften hatte Klibansky beauftragt, eine kritische Ausgabe sämtlicher Werke herauszugeben. In diesen Schriften stieß Klibansky auf sein eigenes Leitmotiv: "Der Mensch muss für sich selbst und somit für sein gutes oder schlechtes Schicksal die Verantwortung übernehmen."
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Intellektuelle Lehrjahre
Geboren wurde Raymond Klibansky am 15. Oktober 1905 in Paris als Sohn jüdischer Auslandsdeutscher. Nach seiner Übersiedelung nach Deutschland studierte er Philosophie und klassische Sprachen in Heidelberg, wo er Vorlesungen und Seminare der miteinander verfeindeten Philosophen Karl Jaspers und Heinrich Rickert hörte.

Besonders anregend fand der junge Klibansky die intellektuelle Atmosphäre im Heidelberg der 20er Jahre. So verkehrte er im Salon von Marianne Weber, der Witwe des Soziologen Max Weber, wo er den Romanisten und Proust-Übersetzer Ernst Robert Curtius oder den Soziologen Karl Mannheim kennen lernte. 1926 kam es zur Bekanntschaft mit dem Philosophen Ernst Cassirer, der ihn in den Kreis um den Kunsthistoriker Aby Warburg einführte.
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Beschäftigung mit Meister Eckhart
Parallel zur Cusanus-Ausgabe arbeitete Klibansky an der Edition der lateinischen Schriften des Mystikers Meister Eckhart, mit dem ihn ebenfalls die Akademie betraut hatte.

Diese Edition hatte neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung noch die Aufgabe, ein verfälschendes Bild zu korrigieren, das nationalsozialistische Philosophen von Eckhart entwarfen. Sie bezeichneten den visionären Philosophen als Reinkarnation des germanischen Denkers, der eine neue Religion des Blutes begründet habe.

Klibansky wandte sich ausdrücklich gegen diese "dümmliche These" und verwies auf Übereinstimmungen Eckharts mit jüdischen und arabischen Philosophen.
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Nationalsozialismus und Emigration
Die Jahre der intensiven Studien, die Klibansky den Ruf eines vielversprechenden Gelehrten einbrachten, wurden durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh abgebrochen. Er erhielt die Anweisung, sein Arbeitszimmer nicht mehr zu betreten und verlor so das Ergebnis einer rund 7-jährigen Forschungstätigkeit.

Von befreundeter Seite wurde ihm empfohlen, Deutschland zu verlassen, da ein Attentat auf ihn geplant sei. Daraufhin verließ Klibansky Deutschland; er reiste über Paris nach London.
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"Saturn und Melancholie" - Ein Standardwerk
Der Nationalsozialismus unterbrach auch ein Projekt, das Klibansky in Hamburg in Zusammenarbeit mit den Kunsthistorikern Erwin Panofski und Fritz Saxl begonnen hatte.

Die Rede ist vom Buch "Saturn und Melancholie" - heute ein Standardwerk der Melancholieforschung - in dem auf rund 900 Seiten historische, philosophische, astrologische, kunsthistorische und medizinhistorische Aspekte der Melancholie thematisiert wurden.

In diesem Buch skizzieren die Autoren die unterschiedlichen Annäherungen an die Melancholie, die von der Antike über das Mittelalter bis zur Renaissance vorgenommen wurden und präsentieren auch Lösungsvorschläge, wie man dieses Leiden zu lindern vermag.

Durch unglückliche Umstände wurde diese bedeutende Studie 1964 in englischer Sprache veröffentlicht und erst 1990 ins Deutsche übersetzt - ein spätes Opfer der Wirrnisse der nationalsozialistischen Machtübernahme.
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Widerstand: Der Philosoph als Geheimdienstmitarbeiter
Nach seiner Ankunft in London entschloss sich Klibansky für eine Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst, um das nationalsozialistische Regime aktiv bekämpfen zu können.

Er sah darin keinen Widerspruch zur philosophischen Arbeit. Angesichts der Gräueltaten eines totalitären Regimes, dem auch zahlreiche Verwandte Klibanskys zum Opfer fielen, war es für ihn klar, seine im Philosophiestudium ausgebildeten strategischen Fähigkeiten der internationalen Resistance gegen Hitler zur Verfügung zu stellen.
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Normalisierung des wissenschaftlichen Lebens
Nach dem 2. Weltkrieg verlief die wissenschaftliche Karriere Klibanskys in "normalen" Bahnen. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Oxford nahm er eine Professur an der McGill-Universität in Montreal an.

Von hier verfolgte er zahlreiche philosophische Projekte wie die Erforschung der platonischen Tradition in der Antike und im Mittelalter oder auch die Erstellung einer internationalen Bibliographie philosophischer Werke, die mit kurzen Inhaltsangaben versehen war.
Bekenntnis zum Humanismus
Im Vordergrund stand jedoch weiterhin sein Eintreten für die humanistischen Ideale, das er nicht als marktschreierische Teilnahme an Unterschriftenaktionen oder Demonstrationen verstand.

Sein Fazit lautet: "Der Philosoph soll nicht glauben, dass das philosophische Argument die Kraft hat, das Handeln zu bestimmen. Das wäre naiv; aber man darf deshalb doch nicht auf sie verzichten."

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen
->   Ö1
 
 
 
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01.01.2010