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Bourdieu: Soziologie als Überlebensprogramm  
  Pierre Bourdieu war ein Star des intellektuellen Lebens, eine Figur mit großer Ausstrahlung und medialer Wirkung. Wie aber erschien er Menschen, mit denen er unmittelbar zusammenarbeitete? Welche Widersprüche wurden sichtbar? Bernd Schwibs, Übersetzer wichtiger Werke Bourdieus, hat dazu für science.orf.at ein Porträt verfasst.  
Mehr als ein Meisterdenker
Von Bernd Schwibs

Verblüfft und fasziniert hat mich von Beginn an seine Ernsthaftigkeit, die fernab von aller Pariser Eitelkeit war - deren ungute Seiten und Vertreter konnte er mit nimmermüdem Sarkasmus aufspießen.

Ich lernte Pierre Bourdieu 1975 oder '76 kennen: Er hatte mich nach Paris eingeladen, an die Maison des Sciences de l'Homme, wo sein Forschungszentrum untergebracht war; zuvor hatte ich für Syndikat seinen fulminanten und in der einschlägigen politischen Literatur zu Heidegger noch immer, wie ich meine, unübertroffenen Artikel "Zur politischen Ontologie Martin Heideggers" übersetzt.

Nun sollte sein Werk "Esquisse d'une theorie de la pratique" übersetzt werden. Aber er hatte, wie immer, Änderungen vorgenommen und den gesamten Aufbau des Buches umgekrempelt: dafür wünschte er mich in Paris.
Bestechende Offenheit
Ich erwartete einen französischen "Meisterdenker": brillant und arrogant. Zunächst bestach mich seine Offenheit, seine Neugierde, deutsche Theorie betreffend (er wusste, dass ich in Frankfurt Soziologie studiert hatte: Zeitlebens hat er sich an der Kritischen Theorie gerieben, später an Habermas - es grenzte zuweilen an Hassliebe: Deren kritischer Impetus war ihm vertraut und wohl auch stilles Vorbild, aber methodisch fand er alle Vertreter dieser Schule als ungenügend - und kontraproduktiv).

Insoweit war er ein ungebrochener Vertreter einer spezifischen französischen Wissenschaftstradition, die in der Linie Durkheim, Canguilhem, Koyre durchaus ihre handfesten positivistischen Anklänge hat.

Vielleicht ist sogar sein in den letzten Jahren geführter engagierter politischer Kampf an der Antiglobalisierungsfront ein Echo auf seine Vorstellung von "wirklicher" kritischer Theorie.
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Die Falten sind tiefer geworden
"Gewiss, die Falten im Gesicht sind etwas tiefer geworden, die Haare ein wenig schütterer; doch in den Augen noch immer der Glanz und der durchdringende Blick - nur hin und wieder von einem Schatten umwölkt, der eine gewisse Müdigkeit zu signalisieren scheint, vielleicht auch Trauer. Aber Auskunft geben über subjektive Befindlichkeiten: das war Pierre Bourdieus Sache noch nie - und dass er sich, gerade als Soziologe, der strategischen Bedeutung der Wahrung der Privatsphäre, ihrer Verletzlichkeit nur allzu bewusst ist, dürfen wir mit Fug und Recht annehmen." (Bernd Schwibs: Aus dem unvollendeten Versuch eines Porträts anlässlich Boudieus 70. Geburtstag)
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Enträtselung des sozialen Geheimnisses
Pierre Bourdieu war Soziologe, oder besser: wurde Soziologe - nicht aus Bildungshunger, denn zu seiner Studienzeit war Soziologie noch nicht mit der Aura der späteren 60er und 70er Jahre umgeben, sondern wohl aus Überlebensprogramm.

Keiner hat wie er in immer wieder neuen Anläufen das soziale Geheimnis der Individuierung zu enträtseln versucht: wie wurde ich durch die sozialen Bedingungen, was ich geworden bin.
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Faszination im persönlichen Gespräch
"Tatsächlich aber fasziniert Pierre Bourdieu im persönlichen Gespräch zunächst durch seine Präsenz, seine Zuwendung, seine Offenheit und zupackende Art, sein schelmisches Lächeln, das sich in den Falten um die Augen niedergeschlagen hat. Doch von Anbeginn ist er - und man selbst mit ihm - in der Sphäre des Objektiven; noch die keineswegs seltenen Aussagen zu persönlichen Vorlieben, Freunden und Feinden, Gewohnheiten klingen wie Einlassungen des absoluten Geistes, wie Modalitäten soziologischer Gesetzmäßigkeiten." (Bernd Schwibs: Aus dem unvollendeten Porträt Bourdieus)
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Akteure oder Verlierer des sozialen Lebens
Keiner hat so minuziös und zugleich, gespeist aus eigener gesellschaftlicher Erfahrung, so verbissen wie er, so glaube ich, die unbewussten und bewussten Strategien nachgezeichnet, mit denen Individuen wie Gruppen zu sozialen Akteuren - oder aber zu Verlierern gesellschaftlicher Prozesse - werden.
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Bernd Schwibs
Bernd Schwibs ist Leitender Redakteur der Zeitschrift "Psyche", Übersetzer u.a. von Bourdieus
- Die politische Ontologie Martin Heideggers
- Entwurf einer Theorie der Praxis (zus. mit C. Pialoux)
- Die feinen Unterschiede (zus. mit Achim Russer)
- Soziologische Fragen (zus. mit Hella Beister)
- Homo academicus
- Die Regeln der Kunst (zus. mit Achim Russer)
- Sozialer Raum und Klassen
- Rede und Antwort
->   Zeitschrift Psyche
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->   science.orf.at: Zum Tode Pierre Bourdieus
 
 
 
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01.01.2010