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Vampirglaube in Südosteuropa
Gastbeitrag von Peter Mario Kreuter
 
  Der Vampirglaube ist Teil eines menschlichen Grundthemas: Erklärung und Überwindung des Todes. Zugleich ist er aber auch Ausdruck der Überzeugung von der Präsenz der Toten unter den Lebenden, sei es in guter oder böser Form. Der Vampir als besonderer Typus des Wiedergängers ist nur im südöstlichen und östlichen Europa verbreitet.  
Lebende Leichname
Mehr als der Glaube an "Nachzehrer", spukende Geister oder Werwölfe hat der Vampirglaube etwas mit elementar bedrohlichem Schrecken zu tun. Der Vampir ist keine unter der Erde ruhende (wenn auch schädigende) Leiche, kein körperloses Spukwesen und auch keine animalische Bedrohung mit menschlichem Hintergrund.

Nein, der Vampir ist ein lebender, fassbarer und menschlicher Leichnam, ein aus der Mitte der eigenen Dorfgemeinschaft stammender Verstorbener, der aus einem der vielen Gründe, die der Volksglauben für eine misslungene Hinüberführung bereithält, nicht in die andere Welt hinüberkommen konnte und nun auf der Erde, die er einmal selbst als Mensch bewohnte, weiterexistieren muss.
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Studie über Vampirglaube
Peter Mario Kreuter unterrichtet am Romanischen Seminar der Universität Bonn. Sein Buch "Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum" ist im Weidler Verlag, Berlin erschienen.
->   Mehr über das Buch
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Eine Reihe von Fragen
Die vorliegende Studie geht den Vampirglauben vom Standpunkt und mit der Methodik des Historikers an, ohne andere Wissenschaften auszuschließen. Die nach wie vor unbeantwortete Frage nach seiner Genese ist die Antriebsfeder der gesamten Arbeit, aber sie ist nicht deren endgültiges Ziel.

Es ist auch um eine Reihe von Fragen zu tun, die sich mit scheinbar nebensächlichen Details beschäftigen, die aber Grundelemente dieses Volksglaubens berühren.

Welche Rolle spielte beispielsweise das Osmanische Reich für den Volksglauben der Völker Südosteuropas? Welchen Stellenwert hat das Blut im Vampirglauben tatsächlich? Welche Rolle haben Seuchen und Krankheiten bei seiner Ausformung gespielt? Und kann man das Wort "Vampir" vielleicht doch etymologisch schlüssig erklären?
Ein besonderer Typus des Wiedergängers
Der Vampir stellt einen besonderen Typus des Wiedergängers dar, der allerdings nur im südöstlichen und östlichen Europa verbreitet ist.

Er ist als individueller und nach dem Tode weiterexistierender Leichnam deutlich von nichtstofflichen (navi, Krankheitsdämonen) oder menschlichen (Hexe, Werwolf) Gestalten des Volksglaubens unterschieden.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Wiedergängern verfügt der Vampir über bestimmte magische Kräfte wie den Entzug der Lebensenergie oder der Qualität aus Dingen, die Herrschaft über niedere Lebewesen sowie die Fähigkeit zur Verwandlung.
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Vampire erschaffen Vampire
Das Blutsaugen als solches ist kein unmittelbarer Bestandteil des Volksglaubens. Vielmehr manifestiert sich die den Menschen entzogene Lebenskraft in Form von Blut im Mund der Vampirleiche. Da der Vampir selbst durch seine unheilvolle Tätigkeit Vampire erschafft, ist er selbstfortzeugend und kann in den Bereich der zyklischen Weltbilder eingeordnet werden. Die Vorstellung vom Vampir ist regional verschieden, doch lässt er sich bei allen Völkern Südosteuropas und sogar marginal bei den Osmanen nachweisen. Die Etymologie des Wortes Vampir ist nicht ganz klar, doch spricht vieles für eine Entlehnung aus einer Turksprache mit langem Entlehnungsweg.
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Vampirglaube und Religion: Suche nach Orientierung
Der Vampirglaube versinnbildlicht das Nachdenken über Sterben und Tod als einem organischen und per se nicht erklärungsbedürftigen Teil des Lebens in einer im wesentlichen zyklisch orientierten (Jahreszeiten) und bäuerlichen, illiteraten Gesellschaft.

Die relative Ferne der linear aufgebauten Hochreligionen (Orthodoxie, Katholizismus, Islam) lässt die Menschen mit ihrem Volksglauben weitgehend allein und liefert keine wirklichen "Erklärungen" für die Einordnung des Todes in den tagtäglich erlebten Lebenszyklus.
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Lebensnahe Formen des Glaubens
Die eher fatalistischen Erklärungsmuster (Erbsünde, Tod als Ende des irdischen Lebens, Auferstehung) stehen der "Primärerfahrung" des sich ständig erneuernden Lebens gegenüber. Die hochreligiösen Erklärungsmuster für Sterben und Tod sind somit bedeutungslos, weil sinnfällig nicht nachvollziehbar. Die nicht sakramentale und damit einen entscheidenden Lebensabschnitt des Menschen nicht ausreichend würdigende Todesbegleitung der Hochreligionen verweist auf eine abstrahierende Ferne von der Lebenserfahrung der Gläubigen.
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Vampirglaube ist schwer einzuordnen
Der Vampirglaube ist mangels eines theoretischen Unterbaus keine Häresie und nur sehr bedingt ein Synkretismus. Besonders problematisch ist die zeitliche Einordnung der einzelnen Bestandteile des Vampirglaubens.

Ein gelehrter Diskurs über den Vampir fand nur in Mittel- und Westeuropa statt und fehlt im eigentlichen Verbreitungsgebiet ebenso wie eine systematische Verfolgung des Volksglaubens durch die Kirche.
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Ein komplexes Phänomen
Die bislang aufgestellten Theorien zum Vampirglauben kranken an ihrem monokausalen Ansatz. Der Vampirglaube speist sich aber aus vielen Quellen und Kulturen.
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Sonderentwicklung in Südosteuropa
Christliche Mystik, die in der Orthodoxie vor allem eine Angelegenheit der Klöster war, hat den Vampirglauben ebenso wenig befruchtet wie Häresien oder das Bogomilentum.

Die aus praktischen Gründen praktizierte Toleranz des Osmanischen Reiches gegenüber den Volkskulturen in Südosteuropa hat bewahrend gewirkt und durch die Trennung vom übrigen Europa zugleich isolierend. Dies erklärt die starken Abweichungen der Vampirgestalt von anderen Wiedergängern in Europa.
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Vampirglaube und Jenseitsvorstellung
Die Funktionen des Vampirglaubens sind sein Beitrag zur Jenseitsvorstellung im Volksglauben, die Erläuterung des Schicksals von Andersartigen und die Stabilisierung der Gesellschaft. Die Verengung im Vampirglauben auf Todespräsenz und die Folgen eines mißlungenen Übergangs in die jenseitige Welt macht deutlich, wie wichtig dieser Bereich für die Menschen ist und wie mangelhaft dieser Bereich von den Hochreligionen abgedeckt wird.
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Versuch der Wahrung von Identität
Die geeignetste Interpretation ist die der Identitätswahrung der einfachen Gesellschaft gegenüber dem hochreligiösen Überbau, und zwar dort, wo dieser keine befriedigenden Antworten liefert.

Diese Dichotomie ist nicht kontrovers, sondern supplementär. Da der Vampirglaube eine Lücke füllt und nicht gegen die Interessen der Hochreligionen bzw. gegen die des osmanischen Staates verstieß, konnte er sich weitgehend unbehelligt entwickeln und halten.
Interdisziplinäre Betrachtung
Der Versuch, die einzelnen Elemente im Vampirglauben diachronisch zu ordnen, ist aussichtslos. Sinnvoll ist lediglich eine genaue Aufzeichnung des Volksglaubens sowie die Einbeziehung von Nachbarwissenschaften wie der Linguistik oder der Vergleichenden Religionswissenschaft.
->   Peter Kreuter: Der Vampir in der rumänischen Literatur
 
 
 
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01.01.2010