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Mehr Tierversuche durch neue EU-Chemikalienpolitik?  
  Vor knapp einem Jahr präsentierte die EU-Kommission ihr Weißbuch zur zukünftigen Chemikalienpolitik. Unter anderem wird darin ein Testen von Altchemikalien auf ihre Gefährlichkeit gefordert. Während Tierschützer bei der Umsetzung des Weißbuchs befürchten, dass bis zu zwölf Millionen Tiere ihre Leben lassen müssen, betrachten es Befürworter als Durchbruch in der Chemikalienpolitik - der auch dazu beiträgt, in Zukunft weniger Versuchstiere zu benötigen.  
30.000 Altchemikalien sind zu untersuchen
In ihrem Weißbuch "Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik" beabsichtigt die EU, Chemikalien, die schon seit 20 Jahren in Konsum- und Industriegütern verwendet werden, zu registrieren und auf ihre Gefährlichkeit zu bewerten. Dazu gehören rund 100.000 Stoffe, die bereits vor September 1981 im Umlauf waren.

Nach Schätzungen würden noch 30.000 dieser Stoffe in Mengen von mehr als einer Tonne jährlich in Verkehr gebracht. Sie sollen bezüglich ihrer Giftigkeit für Mensch, Tier und Umwelt nach heute anerkannten wissenschaftlichen Normen nachgetestet werden. Und zwar auch in Testreihen mit Versuchstieren.
->   "Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik" (pdf-Datei zum Download)
Durchbruch ...
Thomas Jakl, Leiter der Abteilung für Chemiepolitik des Landwirtschaftsministeriums, hält das Weißbuch im science.orf.at-Interview für "einen Durchbruch" in Sachen Chemiepolitik und Tierschutz.

Erstmals werde europaweit in einer gemeinsamen Anstrengung eine Datenbank erstellt, die alle Informationen zu im Umlauf befindlichen Chemikalien enthält, erklärt er.

Zudem betone das Strategiepapier die vorrangige Anwendung von Methoden ohne Tierversuche und die Förderung der Entwicklung neuer Prüfmethoden ohne Versuchstiere.
... oder inakzeptabel?
Auch Walter Pfaller, Professor am Institut für Physiologie der Universität Innsbruck und Vorstand des Zentrums für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen, bezeichnet das Weißbuch gegenüber science.orf.at im Prinzip als richtungsweisend.

Aber: Eine Studie der Universität Leicester spricht von zwölf Millionen benötigter Versuchstiere, falls das Weißbuch in der aktuellen Form umgesetzt würde. Das sei ebenso wenig akzeptabel, wie die Voraussagen bezüglich Zeitplan und Kosten der EU illusorisch sind, so Pfaller.
->   Zentrum für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuche
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12 Mio. Tiere, 8,7 Mrd. Euro, Dauer 46 Jahre?
Im Juni 2001 veröffentlichte das Institut für Umwelt und Gesundheit der Universität Leicester eine im Auftrag der britischen Regierung erstellte Studie, welche die Auswirkungen des EU-Weißbuchs untersuchen sollte.

Die Resultate: Mindestens zwölf Millionen Tiere, davon 8,4 Millionen Säugetiere, müssten als Versuchstiere für die neue Verordnung herhalten. Die Kosten belaufen sich auf 8,68 Milliarden Euro (120 Mrd. S), und die zur Verfügung stehenden Versuchslabors in Europa könnten den angestrebten Zeitplan nicht einhalten. Anstatt bis 2012 würden die Tests je nach Umfang bis zu 36 Jahre länger dauern als geplant.
->   Testing Requirements for Proposals under the EC White Paper "Strategy for a Future Chemicals Policy" (Web Report W6)
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Zwölf Millionen oder eine Million Tiere?
Die Zahl von zwölf Millionen Versuchstieren hält Jakl, der auch die österreichische Delegation jener EU-Arbeitsgruppe anführt, die derzeit an der Umsetzung des Weißbuchs in EU-Recht arbeitet, lediglich für ein "worst case scenario".

Sie sei einer "problematischen Allianz aus chemischer Industrie und Tierschützern" entsprungen. Er selbst geht von maximal einer Million benötigter Tiere aus.

Das EU-Weißbuch sehe zudem Tierversuche nur in Ausnahmefällen vor - etwa im Zusammenhang mit Allergien und hormonellen Wirkungen - und forciere ansonsten Ersatzmethoden wie In-vitro-Systeme.
Zu wenig Förderung alternativer Methoden
Auch eine Million zusätzlicher Tierversuche seien noch immer zu viel, hält dem Walter Pfaller von der Uni Innsbruck entgegen. Er macht für das seiner Ansicht nach zögerliche Anwachsen alternativer Versuchsmethoden vor allem die mangelnden Fördermaßnahmen seitens der EU und der nationalen Politik verantwortlich.

Damit sich die Industrie Versuchen ohne Tiere bedient, bedürfe es validierter Methoden, die auch von der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) anerkannt sind, erklärt der Experte.

Bereits existierende Einrichtungen wie das "European Center for the Validation of Alternative Methods" (ECVAM) könnten dabei behilflich sein. Diese Einrichtungen erführen durch die EU aber bisher zu wenig Unterstützung, so Pfaller.
->   ECVAM
Vorbild ZEBET
Als ein Vorbild zitiert Pfaller die deutsche "Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET)", die erst vor kurzem mit der Entwicklung von Zellkulturtests als Ersatz für Tierversuche aufhorchen ließ.
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Zellversuche statt Tierversuchen
Bei den im November 2001 vorgestellten Versuchen wurden Substanzen auf ihre Phototoxizität geprüft. Dabei wird untersucht, ob chemische Stoffe - wie etwa Inhaltsstoffe von Sonnenschutz- und Arzneimitteln - unter dem Einfluss von Licht schädliche Eigenschaften entwickeln.

Zellkulturtests sagten dabei phototoxische Reaktionen beim Menschen besser voraus als vergleichbare Tierversuche.
->   Mehr darüber in science.orf.at
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Daten zu den Chemikalien bereits vorhanden?
Hauptargument für eine Reduktion der Tierversuche bei Umsetzung des EU-Weißbuchs ist nach Ansicht von Thomas Jakl vom Landwirtschaftsministerium der Aufbau einer europaweiten Datenbank mit den Daten zu den Chemikalien.

Nach Angaben der Industrie - für welche die Überprüfung ihrer Substanzen in erster Linie einen Kostenfaktor darstellt - sei der Großteil der zu erhebenden Daten bereits vorhanden - und müsse "nur" noch gesammelt werden.

"Wenn es stimmt, was die Industrie uns erzählt, dann liegen diese Daten in deren Schubladen", so Jakl. Eine eigene Behörde, möglicherweise in Österreich angesiedelt, soll diese Tätigkeiten EU-weit organisieren und kontrollieren.
Gesetzesvorlage im Sommer 2002
Das Weißbuch der Kommission ist derzeit in der Phase zahlreicher Diskussionen mit verschiedenen Fachleuten. Jakl rechnet mit der Erstellung einer entsprechenden EU-Gesetzesvorlage bis Sommer 2002.

Lukas Wieselberg, science.orf.at
->   Umweltministerium
 
 
 
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01.01.2010