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Netzwerkgesellschaft: Das Alte in den Neuen Medien  
  Neue Medien können manchmal ganz schön alt aussehen. Und zwar dann, wenn man ihr Erscheinen über einen längeren zeitlichen Rahmen spannt - bzw. so manche 'neue' Einsicht noch einmal auf ihre Gültigkeit befragt. Ein neuer Sammelband jedenfalls zeigt, wie sehr die Netzwerkgesellschaft von den Paradigmen der Gutenberg-Gesellschaft und der frühen Neuzeit zehrt.  
"Audiovisualität vor und nach Gutenberg" nennt sich der vom Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums (KHM), Wilfried Seipel, gemeinsam mit den deutschen Kulturwissenschaftlern Horst Wenzel (Humbolt-Universität, Berlin) und Gotthart Wunberg (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, IFK, Wien) herausgegebene Sammelband. Die Beiträge fußen auf Referaten einer hochkarätig besetzten Konferenz des IFK im Wiener KHM.
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Das Buch
Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte medialer Umbrüche. Hrsgg. von Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthard Wunberg (=Schriften des Kunsthistorischen Museums, Bd. 6), Edition Skira. Wien, Mailand 2002.

Die Beiträge des Bandes stammen von Ludwig Jäger, Friedrich Kittler, Gerd Althoff, Jan-Dirk Müller, Klaus Schreiner, Jan Assmann, Urban Küsters,Bernhard Siegert, Thomas Cramer, Daniela Hammer-Tugendhat, Haiko Wandhoff, Horst Wenzel, Aleida Assmann, Michael Giesecke, Hans-Georg Soeffner, Peter M. Spangenberg, Marie-Luise Angerer, Siegfried J. Schmidt und Dirk Matejovski.
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Blicke rund um die Gutenberg-Galaxie
Freilich ging es bei dem Kongress nicht um die Neuen Medien allein. Bestimmt werden sollten die medientechnischen Phänomene, die an der Schwelle von Sattelzeiten, also jenen Epochen, in denen man nachhaltige kulturelle Umschwünge vermutet, wirksam werden.

Aus der medientechnischen Analyse des Anfangs der Gutenberg-Gesellschaft, also den initialen Auswirkungen des Buchdruckes mit beweglichen Lettern, sollten u.a. Hypothesen zur bzw. Rückschlüsse auf die neue Netzwerkgesellschaft gebildet werden.
Die Materialität von Kommunikation
Alle Beiträge der Wissenschaftler aus den doch sehr unterschiedlichen Fächern der "Humanities" eint das starke Interesse an der Materialität von Kommunikation, oder, um es anders zu formulieren: an der Abhängigkeit kultureller Prozesse von den Medien, in denen diese stattfinden.

Der Subtext, auf den sich viele einließen, waren die Arbeiten Marshall McLuhans. Immerhin zielte das Thema "Audiovisualität" auf eine der nachhaltigsten Thesen McLuhans ab: dass mit der Durchsetzung des Print-Paradigmas die auditive Wahrnehmung der oralen Kultur von der visuellen Wahrnehmung der Schriftkultur abgelöst wurde.
Die Parallelwelten der Medien ...
Zahlreiche Beiträge fokussieren dementsprechend den vielfältigen Medienwechsel zu Beginn der frühen Neuzeit. Mitnichten, so zeigen etwa die Texte von Jan Dirk-Müller, Horst Wenzel und Aleida Assmann, führen neue Medien zu einer Ablösung der alten.
... am Beispiel Martin Luthers
Neue Medien können alte Medien durchaus dynamisieren, demonstriert Wenzel über eine Analyse der Briefe Martin Luthers. Die Blüte des Buchdruckes, also der weiten Verbreitung der Luther-Bibel, geht einher mit einer Blüte des handschriftlichen Briefes.

Erst der Buchdruck, so die medientechnische These, führt zu einer Standardisierung des Briefes: Der im Druck wiedergegebene, einst nicht öffentliche, handschriftliche Brief wird zum Muster des künftigen Briefdiskurses.

"Vorschriftliche und schriftliche Kommunikation", folgert auch der Germanist Müller, "lösen einander weder ab, noch stehen sie in Opposition; sie stimulieren einander vielmehr, wobei das komplexere Medium - die Schrift - zur Komplexitätssteigerung des weniger komplexen führt.
Drückende Mythen
Wie sehr die Informationsgesellschaft von den Mythen der Buchkultur abhängt, beschäftigt den Kommunikationstheoretiker Michael Giesecke in seinem Beitrag.

Die Kenntnisse des Entwicklungsgangs der typografischen Epoche könnten laut Giesecke Rückschlüsse darüber erlauben, in welchem Stadium der Informationsgesellschaft wir uns gegenwärtig befinden.
Assoziation am Älteren
"Jedes neue Medium assoziiert sich zunächst an einem älteren, bevor es seine eigenen Möglichkeiten entdeckt und zu sich selbst kommt", orientiert sich Giesecke an einem Credo Hans Magnus Enzensbergers.

Lange Zeit hätten die neuen Medien die Modelle der Buchkultur fortgeschrieben. Die sozial normierten Wahrnehmungs- und Speicherungsprozesse dieser Epoche wurden bloß elektronisch modelliert.

Erst danach wäre jene Phase möglich, in der die Schwachstellen des alten Systems der Buchkultur offen gelegt werden - etwa indem man von der Sprache abkehrt und Info-Systeme schafft, die keiner sprachlichen Darstellung mehr bedürfen.
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Mythen kontra Chancen einer pluralistischen Mediengesellschaft
Giesecke zeigt sich überzeugt, dass uns die Mythen der Buchkultur im Wege stehen, wollen wir die Chancen einer pluralistischen Mediengesellschaft erkennen. Dementsprechend vage ist leider der Ausblick seiner entwicklungsgeschichtlichen Skizze:

Die Gesellschaft müsse sich nach Erkenntnis- und Kommunikationsformen orientieren, die zur "multimedialen und interaktiven Informationsverarbeitung" beitragen. Die Aufforderung, das im Internet gestartete Prinzip des dialogue zu vertiefen, lässt den an Klarheit interessierten Leser dann doch eher ratlos zurück.
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Alte Wissenschaft - Neue Medien
Was die "alte" Wissenschaft unter den "Neuen Medien" versteht, wird insgesamt nicht immer deutlich. Gemeint ist oft das Internet. Für die wissenschaftliche Beschreibung wird aber zumeist jene Ästhetik bedient, die eher aus digitalen Spielkonsolen abgeleitet ist.

Das "Neue Medium" schlechthin, nämlich das Internet, ist weiterhin ein vor allem textzentriertes Medium, das zumindest anwendungstechnisch der Welt Gutenbergs so fern nicht steht:

Die Interfaces des Web werden zuvörderst über Texteingabefenster bedient, und auch die viel beschworene Immersion im Netz funktioniert hauptsächlich über Schrift - und zwar über die des Alphabets (zieht man die Gruppe an Programmierern, Hackern ab).
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Der Hyper-Flash
Wie sehr der Text im Internet Anlass für Überschätzungen liefert, beweist der Beitrag des deutschen Kommunikationswissenschaftlers Siegfried J. Schmidt "Blickwechsel. Umrisse einer neuen Medienepistemologie".

Im Gefolge McLuhans streicht Schmidt die Privilegierung des Wahrnehmungssinnes seit der Durchsetzung des Buchdruckes heraus. Folgerichtig ist die Einsicht, dass das Internet als Medium, das die Schrift bevorzugt, einen "bildhaften, taktilen Umgang mit Texten" fördert. Schmidt weiter: "Wichtig werden Erfahrungen von Präsenz und Beschleunigung im Umgang mit den assoziativ-chaotischen Gestalten der Hyperlinks. Der netuser bekommt eine neue, weithin antihermeneutische und rhetorisch geprägte Einstellung zu Textoberflächen als Manipulationsoberflächen für Hypertextoperationen."

Ob ein Hyperlink assoziativ chaotisch funktioniert, hängt freilich zunächst einmal von dem ab, der diesen setzt. Die Praxis der Netznutzung (Vorsicht, nicht chaotischer Hyperlink!) zeigt, dass Hyperlinks im Gros zur Vertiefung von Verständnis und Wissen, also für ein überaus hermeneutisches Unternehmen eingesetzt werden (zweifelsohne ist der Hyperlink künstlerisches Experimentierfeld und erlaubt die von Schmidt angesprochenen tropischen Sprünge - nur macht eine Minderheit davon im Netz Gebrauch).

Überdies entscheidet im Netz der User viel stärker als in klassischen elektronischen Medien über Präsenz und Beschleunigung von Medieninhalten: Java-Applikationen können ausgeschaltet, Flash-Animationen vom Nutzer negiert werden - all diese medientechnischen Möglichkeiten zur Interferenz des Konsumenten bieten Film und Fernsehen nicht.
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Buchstaben - Zahlen - Codes
Dass Digitalisierung nicht nur ästhetische Dreidimensionalisierung bedeutet, dafür ist Friedrich Kittler mit seinem Beitrag "Buchstaben-Zahlen-Codes" zu danken.

Er gibt einen mehr ideengeschichtlichen Abriss über die Welt der Programmierung und nimmt damit jene Zeichen in den Blick, die via Mathematik neue Zeichen produzieren, ohne dabei die Welt be-zeichnen zu wollen.
Der Weg zu den Medienwissenschaften
Wie sehr es den Geisteswissenschaften noch an einer konsistenten theoretischen Orientierung hin zur Medienwissenschaft fehlt, demonstriert Dirk Matejovski in dem abschließenden Beitrag des Bandes.

Für die Durchsetzung der Neuen Medien in den Lehrplänen der alten Universitäten brauche es mehr als die simplen, aber doch wirksamen Drohimperative, so Matejovski in Anschluss an ein Zitat von Diedrich Diederichsen:

"Gerade Medientheorie, oder was dafür gehalten wird, wird immer unter dieser Rubrik geführt und profitiert von deren furchteinflößendem Modernitäts-Imperativ. Wie kann man Kunsthistoriker verunsichern? - immer noch, wenn man ihnen mit Medien droht. Wie kann man Lokalpolitiker erpressen? - wenn man ihnen mit Medienakademien, neuen Medien etc. winkt. [...] Die neuen Medien haben dabei en passant die moderne Kunst und alle daran hängenden Betriebe aus ihrer Legitimitätskrise erlöst. "Kein Stadtrat muss jetzt seiner 'Das kann unsere Tochter auch'-Argumenten operierenden Ehefrau erklären, warum er für diesen Scheiß so viel Geld ausgibt. Es sind die neuen Medien, und wenn wir sie nicht fördern, verpassen wir etwas, und die Japaner verspeisen uns roh zum Frühstück."

Gerald Heidegger, ORF.at
->   Kunsthistorisches Museum
->   IFK
Die zitierten Wissenschaftler im Netz:
->   Diedrich Diederichsen
->   Michael Giesecke
->   Jan-Dirk Müller
->   S.J. Schmidt (Festschrift)
->   Horst Wenzel
 
 
 
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01.01.2010