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Wissenschaft als Teamarbeit  
  In der Öffentlichkeit sind meist einige wenige "Wissenschaftsstars" bekannt, weil sie etwa den Nobelpreis verliehen bekommen. Doch Forschung und Wissenschaft sind zumeist Teamarbeit. Verschiedene Wissenschaftstheoretiker haben untersucht, welche Strukturen dieser Darstellung zugrunde liegen, welche Chancen die Teamarbeit in Zukunft bietet und welche Probleme zugleich damit auftreten.  
"Wissenschaft war immer schon ein kollektives Unternehmen und das forschende Subjekt vielleicht nur eine Fiktion oder ein Mythos", sagt etwa der Linzer Wissenschaftstheoretiker Gerhard Fröhlich von der Johannes Kepler Universität Linz.
Beispiel Nobelpreis
Ein Beispiel der jüngeren Geschichte: Als der britische Biologe Paul Nurse mit dem Medizin-Nobelpreis 2001 ausgezeichnet wurde, quittierte er seine Freude mit den Worten: "Unsere Errungenschaften waren nur in Teamarbeit möglich."

Die Personalisierung der Wissenschaft mag dennoch didaktisch sinnvoll sein. Denn auch das Wissenschaftssystem benötigt Helden und Vorbilder.

Gerhard Fröhlich erklärt sich den Starrummel um die Nobelpreisträger mit einer ökonomischen Theorie der Aufmerksamkeit: Große Stars gewährleisten die Sichtbarkeit von wissenschaftlichen Theorien und Modellen.
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Der Nobelpreis für ganze Teams?
Der Nobelpreis wird maximal an vier Personen vergeben. In der Realität sind aber zumeist ganze Teams an den ausgezeichneten Forschungen und Entdeckungen beteiligt. In der Zukunft, so Fröhlich, müsse der Nobelpreis auch an ganze
Forscherteams vergeben werden.

Der irische Organisationspsychologe John Hurley hat z.B. 1997 eine Studie über Physiknobelpreisträger durchgeführt. Seine Resultate zeigen, welche großen Teams hinter den prämierten Spitzenforschern stehen.
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Der Einzelkämpfer an der Uni
Vor allem das universitäre Wissenschaftssystem mit seiner historisch geprägten feudal-hierarchischen Struktur stilisiere den Einzelwissenschaftler in Person des Professors hoch, sagt die Wiener Wissenschaftstheoretikerin Ulrike Felt.

Dies habe dazu geführt, dass das ganze Umfeld von Wissenschaftlern historisch ausgeblendet wurde. So sei die Vorstellung entstanden, dass Wissenschaft ausschließlich von einzelnen Personen betrieben wird. Im akademischen Sektor, so Felt, zähle nach wie vor die Einzelleistung mehr als Teamarbeit.
Kollaborationen am CERN
Teamarbeit in der Wissenschaft ist aber keine Erfindung heutiger Zeit. Am Teilchenbeschleuniger des CERN arbeiten seit den 60er Jahren Hochenergiephysiker in Kollaborationen von mehreren tausend Wissenschaftlern zusammen.

Teure Experimente mit langen Vorlaufzeiten beschäftigen Hunderte von Wissenschaftlern: Ingenieure, Physiker, Mathematiker und Informatiker.

Verschiedene Länder müssen ihre Zusammenarbeit koordinieren, es gibt genau definierte Aufgaben für spezielle Forschergruppen, Zeitpläne müssen eingehalten werden.
->   CERN
Problemorientierung und Interdisziplinarität
Heute geht es in der Wissenschaft vor allem um problemorientiertes Wissen, meint Ulrike Felt. Und dieses Wissen kann man nur in interdisziplinären Forschungsteams erzeugen.

Ein Beispiel für interdisziplinäre Teamforschung findet sich bei den Austrian Research Centers (ARC), Österreichs größter außeruniversitären Forschungsinstitution.
Interdisziplinäre Systemforschung
So bestehen etwa die fünf Abteilungen des Geschäftsfeldes "Systemforschung Technik-Wirtschaft-Umwelt" am ARC aus einem interdisziplinären Team von 47 Mitarbeitern.

Physiker, Politikwissenschaftler, Mathematikern, Wirtschaftswissenschaftler und Informationswissenschaftler beschäftigt sich in Seibersdorf mit der Analyse und Steuerung von komplexen sozialen und ökologischen Systemen.
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Analysen zur Verteilung von bodennahem Ozon
Das Wissenschaftlerteam in Seibersdorf erstellt seit acht Jahren Analysen zur raumzeitlichen Verteilung von bodennahem Ozon. Welche Konzentrationen man wo und wann in Österreich findet, und wie man sie minimieren kann, dieses wissenschaftliche Problem lasse sich nur mit einem inter- und multidisziplinären Team lösen, erklärt der Physiker Joseph Fröhlich, der das Team leitet. Sämtliche Berechnungsmodelle und Graphiken für die Ozon-Landkarten Österreichs werden in Seibersdorf von Fröhlichs Teams erstellt.
->   Austrian Research Centers
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Heterogenität von Forscherteams
Bei der Zusammensetzung eines Forscherteams, erklärt die Wiener Sozialwissenschaftlerin Celine Loibl, spiele auch die Heterogenität der Gruppenmitglieder eine Rolle.

Kreative Forscherteams bestehen zumeist aus Wissenschaftlern mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Der unlängst verstorbene französische Soziologe Paul Bourdieu nannte dies den "Habitus" von Wissenschaftlern.
Der Wissenschaftler als Manager
Für die Projektleiter von größeren Forschungsteams, so die Soziologin Juliana Lutz vom Wiener Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF), habe sich das Aufgabenspektrum stark ausgeweitet. Managementfähigkeiten spielen heute neben der fachlichen Kompetenz eine immer wichtigere Rolle.

Ulrike Felt vom Wiener Institut für Wissenschaftstheorie und -forschung konstatiert eine "Verwirtschaftlichung der wissenschaftlichen Praxis".

Vor allem ältere Wissenschaftler mit langjähriger Forschungserfahrung übernehmen in den Forschungsprojekten immer häufiger organisatorische und strategische Manageragenden.
->   Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung
->   Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung
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Soziale Kompetenz zu wenig bewertet
Die Soziologin Celine Loibl hat in einer 5-jährigen Studie die Arbeitserfahrungen von 60 Projektleitern inter- und transdisziplinärer Forschungsteams dokumentiert. Je höher die soziale Kompetenz eines Projektleiters ist, hat die Soziologin festgestellt, desto effizienter arbeitet ein Wissenschaftler-Team.

Sozialkompetenz wird ihrer Meinung nach aber vor allem an den Universitäten zu wenig honoriert. Für die Vergabe von wissenschaftlichen Projekten sei in Österreich nach wie vor ausschließlich der fachliche Ruf und selten die Sozialkompetenz des Projektleiters entscheidend, kritisiert Loibl.
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Das interdisziplinäre Sprachproblem
In der täglichen Forschungsarbeit und beim Abfassen von Projektanträgen, Zwischenberichten oder wissenschaftlichen Expertisen treffen auch immer wieder unterschiedliche Terminologien und Fachausdrücke aufeinander.

Eine Gemeinschaftssprache zu finden, ist für interdisziplinäre Forschungsteams eines der größten Probleme. Wissenschaftler aus eng benachbarten Disziplinen - wie zum Beispiel Psychologie und Soziologie - haben bei terminologischen Kompromissen größere Probleme, wie Soziologin Celine Loibl festgestellt hat.
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Naturwissenschaftler sind "delegierfreudiger"
In ihrer Studie hat Loibl auch herausgefunden, dass die Naturwissenschaftler in einem Team delegierfreudiger sind als ihre Partner aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Naturwissenschaftler bevorzugen demnach exakte Arbeitsteilung und geben organisatorische und finanzielle Aufgaben gerne an die Projektplanung ab.
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Vor- und Nachteile der Teamarbeit
In erster Linie wird das Forschen in einem Team als intellektuelle Bereicherung, als Erweiterung des wissenschaftlichen Horizont angesehen, meint der Wiener Sozialwissenschaftler Heinz Schandel. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit in den Elfenbeinturm.

Als Teamarbeiter bekomme man ständig Kritik und Feedback. Schwierig sei es aber, den persönlichen Anteil an der gemeinsamen Forschungsleistung zu bestimmen, erklärt Schandel.
Problemfall Publikation
Ein spezielles Problem in der wissenschaftlichen Teamarbeit sind die Publikationen. Der Einzelautor ist hier ein Relikt aus vergangenen Tagen. Es erscheinen Forschungsberichte von über zehn bis zwanzig Autoren.

Für die wissenschaftliche Karriere ist es dennoch wichtig, als Erstautor genannt zu werden. Viele Forschungsinstitutionen formulieren deshalb einen expliziten Publikationskodex, in dem festgehalten wird, wer auf einer Autorenliste erscheint.
Missbräuche bei Team-Publikationen
Nach wie vor kommt es aber bei Team-Publikationen zu Missbräuchen und Benachteiligungen, sagt Gerhard Fröhlich vom Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Kepler Universität Linz.

Eine ist die Ehrenautorenschaft: Wissenschaftler, die keine Zeile geschrieben haben, gelten offiziell als Autoren eines Fachartikels.

Gelegentlich werden auch die Auftraggeber zu wissenschaftlichen Autoren, oder maßgeblich beteiligte Wissenschafter müssen stillschweigend ihre Degradierung zu Subautoren hinnehmen.

Ein Beitrag von Armin Stadler für die Ö1-Dimensionen
->   Radio Österreich 1
 
 
 
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01.01.2010