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Europas Universitäten der Zukunft  
  In ganz Europa befinden sich die Universitäten im Zustand der Dauerreform. Bei einer Tagung in Wien stellten Fachleute einen Vergleich der verschiedenen Konzepte her und arbeiteten an gemeinsamen Entwicklungslinien für gesamteuropäische Lösungen. Im Vordergrund standen dabei exemplarisch die Eidgenössische Technische Hochschule, die ETH Zürich, Universitäten in Baden-Württemberg und die Universität Utrecht in den Niederlanden.  
Wie definiert ein Nobelpreisträger für Chemie die Aufgaben der Universitäten im 21. Jahrhundert? Der Schweizer Richard Ernst, Nobelpreisträger für Chemie 1991 und Professor an der ETH Zürich, sieht neben Forschung und Lehre eine fast pastorale Funktion der Hohen Schulen.
Mehr Verantwortung durch Universitäten
"Unsere Welt schlittert immer weiter in kulturelle, politische und wirtschaftliche Unsicherheiten hinein. Auch die Politiker wissen eigentlich nicht mehr weiter. Was uns fehlt sind Ratgeber, die uns langfristig den Weg weisen", erläutert Ernst.

"Ich sehe niemanden, außer den Universitäten, die das besser machen könnten. Diese Verantwortung müssen die Universitäten verstärkt wahrnehmen - dann werden sie auch gesellschaftliche Anerkennung bekommen", so der Chemiker.
In den Niederungen des Universitätsalltages
Und in den Niederungen des Alltags von Uni-Verwaltung und Bürokratie? Hier ortet Richard Ernst Reformbedarf bei den Österreichern, die er für kreativ hält, sieht aber auch die Schweiz nicht unbedingt als großes Vorbild.

"Wir sind dabei, unser sehr kompliziertes System zu reformieren. Außer bei den beiden ETHs, also den technischen Hochschulen, haben die Kantone die Bildungshoheit - das ist sehr schwierig zu koordinieren. Die ETHs mit ihrer klaren Struktur wären ein Modell für die Schweiz und in Europa überhaupt", erklärt Ernst.
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Zentralistisch oder föderalistisch?
Ob zentralisiert oder föderalistisch organisiert - immer läuft es auf die Frage hinaus: Wer soll das vorhandene Geld bekommen? Hier machen sich nach Ansicht mancher Beobachter oft allzu vordergründige betriebliche Kriterien breit, die eher den Gesetzen des Marktes, als jenen der Wissenschaftlichkeit ähneln.
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Ein Motor für die Wirtschaft
Auch die wirtschaftsskeptischsten Puristen werden zugeben müssen, dass universitäre Forschung mittlerweile mehr denn je ein Motor für wirtschaftlichen Erfolg ist und nicht mehr wie zu Wilhelm von Humboldts Zeiten für sich alleine stehen kann.

So sieht es zumindest Peter Frankenberg, der Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst im deutschen Baden-Württemberg. Das ändert für ihn nichts an der Unveränderlichkeit gewisser Humboldt'scher Bildungsideale: So gehören für ihn Forschung und Lehre heute noch genauso zusammen, wie im bildungsbürgerlichen 19. Jahrhundert.

Wenn diese Grundsätze gewährleistet bleiben, dann gebe es keinen Grund, sich vor der kräftigen Beteiligung der Privatwirtschaft am universitären Schaffen und Forschen zu fürchten, so der badenwürttembergische Wissenschaftsminister.
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Geringer Staatsanteil an Forschungsausgaben
"Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben meines Landes werden zu 80 Prozent von der Wirtschaft getragen. Der Staatsanteil wird immer geringer. Was aber die Wirtschaft nicht leisten kann, ist die gesamte Grundlagenforschung", so Frankenberg. "Und da liegt die Hauptaufgabe des Staates, aber trotzdem auch in der anwendungsorientierten Forschung, z.B bei den Fachhochschulen. Staat und Unis müssen eine Brücke zwischen Grundlagen - und angewandter Forschung schlagen."
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Schnelle Änderung von Strukturen
Indes ist die Grenze zwischen angewandter und Grundlagenforschung ohnedies schon länger fließend, erinnert sich der studierte Botaniker Frankenberg: "Als ich studierte und promovierte, war Genetik noch eine Grundlagenforschung, heute ist es ein extrem anwendungsorientierter Zweig, der aber noch immer einen hohen Grundlagenteil hat. Das heißt, die Strukturen müssen den schnellen Umschlag ermöglichen."
Freiheit in Sicherheit
Freiheit in Sicherheit streben die europäischen Universitäten an. Zwischen öffentlichen und privaten Lösungen sind die Wege aber verschieden, konstatiert Jan Veldhuis, der Präsident der niederländischen Universität Utrecht.

"Die Niederlande stehen ein bisschen mehr unter dem Druck des angloamerikanischen Systems, als andere europäische Länder - wahrscheinlich, weil wir der Rand des Kontinents sind und ständig nach Großbritannien und Nordamerika sehen," so Veldhuis.
Der nicht immer sinnvolle Blick über den Teich
"Unsere Politiker sagen ständig: Schaut da hinüber, dort ist alles viel besser! Da muss man allerdings erkennen, dass England und die USA ein gemischtes öffentlich-privates System haben", erklärt der Uni-Präsident von Utrecht.

"Ich habe es während meines Studiums in den USA selber gesehen: Die haben dort 500 Universitäten, und nur die ersten 50 sind gut; eine ganze Menge ist mittelmäßig, und ob Sie mir es glauben oder nicht: Die letzten 200 sind ganz furchtbar schlecht! Und deshalb sage ich in den Niederlanden immer: Seid vorsichtig, seht nicht andauernd nur auf Oxford, Cambridge, Harvard und Yale, sondern auf das ganze System", so Veldhuis.
Mehr für kontinentaleuropäisches System
Mehr kann Veldhuis da schon dem traditionellen kontinentaleuropäischen Hochschulsystem abgewinnen. Bei dessen Reform warnt er allerdings vor gewissen Nebenerscheinungen der Autonomie, der berühmten Vollrechtsfähigkeit.

"Ich bin sehr beeindruckt, dass Sie sich bei diesem Reformvorschlag gleich mindestens zehn Probleme auf einmal vornehmen, mit denen wir in den Niederlanden schon seit vierzig Jahren kämpfen. Wir haben sie wahrscheinlich nur teilweise und langsam gelöst."
Je mehr Autonomie, desto mehr Gesetze
Aber Veldhuis sieht auch ein Problem: Je mehr Sie von Autonomie sprechen, desto mehr Gesetze kommen offensichtlich ins Spiel - das scheint ein gewisser Widerspruch zu sein.

In den Niederlanden haben viele den Eindruck, dass an den deutschen, österreichischen und Schweizer Universitäten der Einzelne ohnehin große persönliche Freiheiten genießt.
Warnung vor Politiker-Versprechen
Veldhuis warnt aber auch vor den Versprechen der Politiker in Bezug auf Autonomie. Politiker haben immer zwei Gesichter, wenn sie die Autonomie predigen: "Mit dem einen reden sie von Qualität von Forschung und Lehre, und mit dem zweiten sagen sie sich: 'Wir haben nicht genug Geld. Vielleicht können wir ihnen weniger zahlen, wenn wir ihnen Autonomie versprechen.'"

Und Misstrauen dürfte auch hierzulande ein Leitmotiv der Uni-Reformdiskussion sein. Da braucht Österreich keinen europäischen Vergleich zu scheuen.

Ein Beitrag von Martin Haidinger für die Ö1-Dimensionen am 14.02.2002, 19.00 Uhr.
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01.01.2010