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Das soziale Leben nach der Transplantation  
  Mit einem fremden Organ zu leben, kann eine große psychische Belastung bedeuten, denn Transplantierte bleiben chronisch krank. Jetzt deckte eine Studie die vielen psychosozialen Folgen von Transplantationen auf, die von Angst über Identitätsfragen bis zu erschwerter sozialer Integration reichen. Diese psychosozialen Belastungen sind laut der Studie von ebenso großer Relevanz für die Beurteilung der postoperativen Lebenssituation, wie der medizinische Heilungsprozess.  
Ein Team von Medizinern und Psychologen der Freien Universität und der Humboldt-Universität in Berlin untersuchte, wie herztransplantierte Jugendliche und deren Eltern mit postoperativen Belastungssituation nach Transplantationen umgehen und sich selbst sowie ihr soziales Umfeld nach dem Eingriff wahrnehmen.
Bereits mehrere Untersuchungen vorhanden
Die Auswirkungen chronischer Krankheit auf die Familie sowie auf die Lebensqualität und die psychosoziale Entwicklung der betroffenen Jugendlichen sind in zahlreichen Studien untersucht worden.

Die Entwicklung einer sicheren Identität und eines positiven Körperbildes, die Integration in die Gleichaltrigengruppe sowie die Entwicklung von Autonomie mit Loslösung vom Elternhaus waren laut dem Psychologen Peri Terzioglu von der Freien Universität Berlin bislang kaum Gegenstand der Untersuchung.
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Interviews mit Betroffenen
Im Rahmen des zweijährigen Forschungsprojekts "Biografische Konzepte und Lebensqualität von Jugendlichen nach Herz- bzw. Lebertransplantation", das im Rahmen der "Berlin-Forschung" gefördert wurde, wurden problemzentrierte Interviews mit sechs herztransplantierten Jugendlichen und deren Eltern sowie mit Ärzten und Psychologen aus dem Transplantationsbereich geführt. Die ausgewählten Jugendlichen waren zwischen 12 und 18 Jahren alt. Der Abstand zur Transplantation betrug ein bis drei Jahre.
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Ein fast normales Leben?
In den Experteninterviews der betroffenen Jugendlichen mit Ärzten wurde der Eindruck gewonnen, das Leben transplantierter Jugendlicher verlaufe fast wie das gesunder Jugendlicher.

Die Beschreibung so genannter "guter Verläufe" wurde immer wieder als Argument für den Eingriff herangezogen, und es wurde an vielen Beispielen deutlich gemacht, wie "normal" das Leben nach einer Transplantation sei, beschreibt Peri Terzioglu.
Körperlich fast wie Gleichaltrige
Bei den Ärzten herrschte Übereinstimmung darin, dass die Jugendlichen nach Überstehen der akut postoperativen Phase bald ein körperliches Leistungsniveau erreichten, das dem gesunder Gleichaltriger sehr nahe kam.

Insgesamt traten bei keinem der befragten Jugendlichen gravierende Komplikationen bei bzw. nach der Operation auf. Die Anzahl der täglich einzunehmenden Medikamente hatte sich bei den meisten Jugendlichen inzwischen auf eine vergleichsweise geringe Dosis reduziert.

Alle befragten herztransplantierten Jugendlichen besuchten normale Schulen und hatten durch den Eingriff oft kaum mehr als drei Wochen Schulunterricht verpasst. Sie waren in der Lage, in Maßen Sport zu betreiben.
Die Schattenseiten
Bei der Auswertung der Interviews mit den Jugendlichen deutete sich allerdings an, dass sich hinter der Fassade der Normalität Unsicherheiten und Ängste verbargen. Allen befragten Jugendlichen war bewusst, dass sie ohne die Transplantation gestorben wären.

Gleichzeitig wussten sie, dass eine Abstoßung des Spenderorgans auch Jahre nach der Transplantation jederzeit auftreten und lebensbedrohliche Komplikationen mit sich bringen kann.

Die Routineuntersuchungen wurden von allen Jugendlichen als sehr Angst besetzt geschildert, selbst dann, wenn sie sich körperlich gut fühlten und äußerlich kein Anlass zur Sorge bestand, schildert Psychologe Terzioglu.
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Transplantationen
Übertragung von Körpergeweben oder Organen zum Ersatz für geschädigte, funktionsuntüchtige Gewebe oder Organe. Zu unterscheiden ist die Übertragung körpereigenen Gewebes von einem Körperteil auf einen anderen und die Übertragung von Geweben und Organen von einem Menschen auf einen anderen sowie die Organübertragung zwischen Individuen verschiedener Arten (Xenotransplantation).

Die autogene Transplantation verläuft in der Regel problemlos, da körpereigene Gewebe verwendet werden. Bei der allogenen Transplantation ist das Hauptproblem die Unverträglichkeitsreaktion zwischen Spenderorgan und Empfängerorganismus. Dabei handelt es sich um eine Abstoßungs-Reaktion des Immunsystems.
->   Mehr Informationen zu Herztransplantationen
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Schwierige Integration in das Selbstbild
Für die Jugendlichen bestand außerdem die Notwendigkeit, das Organ eines fremden Menschen, der gestorben ist, in das Selbstbild zu integrieren - und das in einer Lebensphase, in der die Entwicklung einer sicheren Identität eine wichtige Aufgabe darstellt.

Die symbolische Besetzung des Herzens als Sitz der Gefühle und der Persönlichkeit stellte dabei eine zusätzliche Belastung dar. "Ich frage mich immer, was er so gemacht hat den ganzen Tag, ob er ähnlich war wie ich oder so", erläuterte ein Junge seine Gedanken über den Spender seines neuen Herzens.
Erschwerte soziale Integration
Zentral für das Jugendalter ist die Aufnahme von Beziehungen zu Gleichaltrigen außerhalb der Familie. In der Studie wird deutlich, dass den Jugendlichen eine soziale Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen infolge der Erkrankung erschwert war und somit die Loslösung vom Elternhaus nur eingeschränkt erfolgte.
Psychosoziale Belastungen entscheidend
Die psychosozialen Belastungen infolge der Transplantation sind nach der vorliegenden Studie also von ebenso großer Relevanz für die Beurteilung der postoperativen Lebenssituation wie medizinische Heilungsfaktoren.

Neben der erschwerten Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen und der übermäßig starken verbleibenden Bindung an das Elternhaus bleibt die Erfahrung der frühen Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod für die Jugendlichen ein belastender Bestandteil ihres Lebens. Für viele Eltern bedeutet die Bewältigung ihrer derzeitigen Lebenssituation eine Überforderung.
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Herz-Transplantationen in Österreich
Die Daten des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen (ÖBIG) über das Herz-Transplantationsgeschehen in Österreich weisen rückläufige Zahlen aus: Von 108 Herztransplantationen im Jahre 1993 ging die Zahl auf 64 im Jahr 2001 zurück.

Das österreichische Transplantationsgeschehen ist eingebunden in die Aktivitäten der Eurotransplant International Foundation,
www.transplant.org, einer nicht gewinnorientierten Stiftung mit Sitz in Leiden, die innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten (Belgien, Deutschland, Niederlande, Luxemburg, Österreich und Slowenien) die Organspenden koordiniert und für die Organallokation (Zuteilung von Spenderorganen an Patienten nach festgelegten Kriterien) verantwortlich zeichnet.
->   Daten aus den Jahren 1993 bis 2001
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Soziale Situation und Ängste thematisieren
Mangelndes Fachwissen, unrealistische Erwartungen an die Zeit nach der Transplantation, eine zu geringe soziale Unterstützung und eine starke Abhängigkeit von den Ärzten wirken hier verstärkend.

Es erscheine daher sinnvoll, im ärztlichen Beratungsgespräch noch stärker als bisher die soziale Lebenssituation und Ängste der Betroffenen zu thematisieren und auf die Gefahr psychosozialer Belastungen frühzeitig hinzuweisen, beschreibt Peri Terzioglu Schlussfolgerungen aus der vorliegenden Studie.

Dazu könnten neben dem Gespräch auch schriftliche Informationen dienen. Den Familien wird so ermöglicht, ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen und entsprechende Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.
Einbindung der Eltern wichtig
Eltern sollten als Zielgruppe psychologischer Interventionen verstärkt berücksichtigt werden, da sie von zentraler Bedeutung für die transplantierten Jugendlichen sind. Dabei sollte vor allem darauf geachtet werden, unrealistische Vorstellungen vom Leben nach der Transplantation schon vor der Operation zu korrigieren.

Die Bildung von Netzwerken transplantierter Jugendlicher, möglicherweise mit Hilfe des Internets, sollte schon in der Klinik unterstützt werden.

Da die Jugendlichen nach Aussage vieler Eltern schwer zur Teilnahme an psychologischen Gesprächsgruppen außerhalb der Klinik zu motivieren sind, wäre die Einrichtung von "Chatrooms" unter Teilnahme eines psychologischen Experten eine Alternative.
Abhängigkeit der Eltern vermeiden
Eine umfassende Betreuung der Familien erfordert eine intensive Zusammenarbeit von Ärzten und Professionellen aus dem psychosozialen Bereich.

Dabei sollte die psychologische Betreuung der Patienten und ihrer Familien eine ebenso große Relevanz haben wie die medizinische, um die langfristige Anpassung der Familien an die neue Lebenssituation zu ermöglichen.

Sämtliche Maßnahmen sollten das Ziel verfolgen, eine übermäßige Abhängigkeit der Eltern von den Ärzten zu vermeiden und sie stattdessen in die Lage versetzen, während des gesamten Transplantationsprozesses mitverantwortlich für den Genesungsprozess ihrer Kinder zu bleiben.

Auf diese Weise wird es ihnen nach dem Klinikaufenthalt leichter fallen, aktiv und kompetent die neue Lebenssituation gemeinsam mit ihren Kindern zu bewältigen, wie Psychologe Terzioglu abschließend ausführt.
->   Institut für Klinische Psychologie, Psychologische Diagnostik und Gemeindepsychologie, Freie Universität Berlin
->   Linksammlung zu Transplantation
->   Bei der Eurotransplant International Foundation finden Sie Zahlen im europäischen Vergleich
 
 
 
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01.01.2010