News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
"Wehrmachtsausstellung" und Diskurs über Gewalt  
  Ab April wird die neu konzipierte "Wehrmachtsausstellung" im Wiener Semper-Depot zu sehen sein. Um die Auseinandersetzung mit diesem kontroversiellen Projekt weniger emotional, dafür aber nachhaltiger zu gestalten, ist ein pädagogisches und wissenschaftliches Begleitprogramm geplant. Die damit verbundene Initiative "Dialog. Diskussion. Demokratie", die heute vormittag vorgestellt wurde, soll generell den Diskurs über Gewalt in der Gegenwart fördern, so der Historiker Oliver Rathkolb in seinem Gastkommentar für science.ORF.at.  
Diskurs über Gewalt
Von Oliver Rathkolb

Seit dem Terrorattentat vom 11. Sept. 2001 gegen das World Trade Center in New York und den nachfolgenden Aktivitäten gegen internationalen Terror - insbesondere der militärischen Zerschlagung des Taliban-Regimes in Afganistan -, ist eine kontinuierliche öffentliche Auseinandersetzung über "Gewalt" in all ihren Formen und Konfliktregelung bzw. Gewalt- und Konfliktverhinderung ein zentrales Diskursthema für funktionierende Zivilgesellschaften.
Verteidigung des "gerechten Krieges"
Zuletzt wurde ein gemeinsamer Brief von 58 amerikanischen Intellektuellen zur Verteidigung des "gerechten Krieges" - unter ihnen auch "Linke" wie der Princeton-Professor Michael Walzer oder der demokratische Ex-Senator Daniel Patrick Moynihan, aber auch konservative Denker wie Francis Fukuyama - höchst kontrovers diskutiert.

Von vielen in Europa als politischer Blankoscheck für den uneingeschränkten Krieg gegen den Terrorismus, aber auch einzelne Nationalstaaten interpretiert, betonen manche US-Beobachter die Bedeutung der Vorbemerkungen des Schreibens.

In diesen werden sowohl die Arroganz US-amerikanischer Interventionen, als auch die Fehler der Vietnam-Intervention und ein Plädoyer für universelle, und nicht rein religiös bestimmte Menschenrechte betont.
->   US-Intellektuelle für gerechten "Krieg gegen Terror"
Verweis auf den Zweiten Weltkrieg
Es ist kein Zufall, dass viele Kommentatoren und Kommentatorinnen immer wieder in diesem aktuellen Zusammenhang auf den Zweiten Weltkrieg verweisen und die zu lange Zurückhaltung der USA zur militärischen Intervention gegen das nationalsozialistische deutsche Regime, aber auch das japanische und italienische faschistische Regime kritisieren.

Als historische Lehre für die Gegenwart konstatieren sie, dass eine rechtzeitige Zerschlagung des Faschismus durch eine Anti-Hitler-Koalition mit der Sowjetunion und Großbritannien und anderen Staaten den Holocaust und den II. Weltkrieg hätte verhindern können.
...
Aktueller Bezug zur "Wehrmachtsausstellung"
Insofern bietet die aktuelle Diskussion über Gewalt durch die "Wehrmachtsausstellung" (d.h. im Volltext durch die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944") einen geeigneten Ausgangspunkt. Begleitet von Schulprojekten, einem wissenschaftlichen Symposion und einem Vortrag des Nationalsozialismus-Experten Hans Mommsen wird auch für ein geeignetes Rahmenprogramm gesorgt werden.

Die im Rahmen der ersten "Wehrmachtsausstellung" teilweise höchst kontroversen Debatten, die nicht nur die "Wehrmachtsgeneration" betrafen, sollten diesmal weniger emotionalisiert geführt werden. Die Zielrichtung der Ausstellung bleibt gleich, da unter Einbeziehung neuer Forschung präzise der Umfang der aktiven Verwicklung von Wehrmachtseinheiten in "Massenvernichtungen" und Kriegsverbrechen dokumentiert wird. Hintergründe sowie individuelle Entscheidungsrahmen werden analysiert.
...
Aufklärung über den Mythos "Krieg"
In diesem Zusammenhang können die Erfahrungen und Perzeptionen von noch lebenden Wehrmachtsangehörigen sowie jener, die hinter der Front lebten, in Diskussionen mit jungen Menschen den Mythos "Krieg" abbauen.

Viele Jahrzehnte lang hat in Österreich, aber auch in kritischerer Form in Deutschland eine verharmlosende und rechtfertigende Kriegsdarstellung und Erinnerung den gesellschaftlichen Diskurs beherrscht.

Diese Form des Dialogs, aber auch der Konfrontation zwischen den noch lebenden Repräsentanten der Kriegs- und Wehrmachtsgeneration und in der Nachkriegszeit sozialisierten Generationen wird bald nicht mehr möglich sein.
...
Kritik und Rationalität
Gerade weil diese neue Ausstellung noch stärker als die alte Darstellung weg von bildhaften und damit schockartigen Fotodarstellungen hin zu erklärenden Texten geht, könnte eine kritische, aber rationalere Kommunikationsebene entstehen, die unbedingt genützt werden sollte.
->   Mehr über die aktuelle Wehrmachtsausstellung
...
Enttabuisierung und öffentliche Diskussion
Mehr als fünfzig Jahre nach Ende des II. Weltkrieges werden heute viele Themen, die durch den Kalten Krieg, den Eisernen Vorhang und das Primat des ökonomischen Wiederaufbaus unterdrückt oder politisch einseitig instrumentalisiert wurden, nochmals öffentlich diskutiert.

Nicht nur im Bereich der nationalsozialistischen Zwangsarbeit und der Nicht-Entschädigung für materielle Vermögensverluste durch "Arisierungen" während der NS-Zeit in Europa werden Menschenrechtsthemen neuerlich relevant.
Beispiel Sudetendeutsche
So unter anderem auch die Vertreibung, Enteignung, aber auch Ermordung von Volksdeutschen im Allgemeinen und Sudetendeutschen im Speziellen zu Kriegsende und in den ersten Nachkriegsmonaten.

In den 1940er und 1950er Jahren vor allem in der Bundesrepublik Deutschland war dies meist ein parteipolitisch besetztes Thema der Rechten und der konservativen Parteien - in Österreich spielte diese Frage bis vor wenigen Jahren keine wirkliche Rolle.

Heute nimmt zunehmend der breite gesellschaftliche und mediale Diskurs eine wichtigere Stellung ein, obwohl vor allem in Österreich die parteipolitische Vereinnahmung durchaus relevant ist.
Vertreibung der Deutschen - "Im Krebsgang"
In diesem Diskursfeld "Vertreibung der Deutschen" wird nicht das Tätertabu wie im Falle der Wehrmachtsausstellung gebrochen, sondern die deutschen Vertriebenen werden als Opfer dargestellt.

Es ist kein Zufall, sondern zeigt die gesellschaftliche Stimmung - ausgehend von den wenigen Repräsentanten der Kriegsgeneration, dass gerade der 75-jährige, in Gdansk (damals Danzig) geborene Schriftsteller Günter Grass - einer der Heroen der demokratiepolitischen Debatten der späten 1960er und 1970er Jahre - in seinem jüngsten Roman "Im Krebsgang" sich dieser Thematik ostentativ annimmt.
...
Der neue Günter Grass: Deutsche als "Opfer"
Seine emotionale Rückblende in das Jahr 1945 baut Grass um die Versenkung eines Flüchtlingsschiffes, des ehemaligen KdF-Schiffs Wilhelm Gustloff, durch ein sowjetisches U-Boot zu Kriegsende, bei der rund 8.000 Menschen (darunter 4.000 Frauen und Kinder) ums Leben kamen. Fernsehdokumentationen zu dem Thema folgen fast wie in unsichtbarer generalstabsmäßiger Planung.

Die Diskussion über die deutschen Täter scheint aus der Perspektive von Günter Grass bereits demokratiepolitisch stark genug etabliert zu sein, um eine derartige Debatte, Deutsche als "Opfer", auszuhalten, ohne in einer dumpfen Aufrechnung zu versinken.
...
Auseinandersetzung mit Zeitzeugen
Auch im Falle der Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/1946 wurde in den letzten Jahren die Diskussion wieder heftiger. Fast hat man das Gefühl, als wollten die Nachkommen der Kriegsgeneration noch einmal diese durch den Kalten Krieg und Eisernen Vorhang unterbrochene Auseinandersetzung mit Zeitzeugen führen.
Orte der Erinnerung
Zunehmend werden auch die aufgrund der bevorstehenden europäischen Erweiterung notwendigen, bisher ausgeblendeten gemeinsamen Erinnerungsorte definiert.

1945 wird mehr und mehr ein gesamteuropäischer Erinnerungsraum, der nicht mehr nur aus nationalstaatlicher oder bilateraler Perspektive diskutiert werden kann.
...
Workshop des Demokratiezentrums
Ein internationaler Workshop des Demokratiezentrums Wien im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Dialog.Diskussion.Demokratie" - eine Initiative des Wiener Stadtrates Andreas Mailath-Pokorny - wird die europäischen als auch transatlantischen Perspektiven in die Debatte einbringen, aber auch die Perspektive auf die NS-Verbrechen vor 1945 gegen Tschechen und Slowaken, sowie die politische Sozialisation und Instrumentalisierung der Volksdeutschen und Sudetendeutschen nicht aus den Augen verlieren. Durch zusätzliche Interaktionen im Internet wird für eine möglichst breite (auch internationale) Vor- und Nachbereitung der wissenschaftlichen Debatten gesorgt werden.
->   Demokratiezentrum Wien
...
Krieg und Medien: Spannung ist garantiert
Ein wesentlicher Grund, warum auch "historische" Menschenrechtsverletzungen während und unmittelbar nach dem II. Weltkrieg heute noch diskutiert werden, liegt sicherlich in der (multi)medialen Auseinandersetzung.

Das Thema "Krieg" garantiert nach wie vor entsprechende Einschaltquoten, hingegen bleibt die Reflexion über Kriegsursachen oder die Grundsatzberichterstattung über Konfliktverhinderung in den Printmedien und im Fernsehen meist im Hintergrund.
...
Kriege und "Bilderkriege"
Anlässlich des ersten Jahrestages des 11. Septembers wird daher das Demokratiezentrum Wien eine zweite Veranstaltung ausrichten, die die Rolle und Bedeutung von Medien in der "Kriegs"-Berichterstattung thematisieren soll. Die Ausstellung "Body Count - Kunst und Krieg in Zeiten der Medien" in der Kunsthalle Wien im Frühjahr 2003 wird diese Auseinandersetzung über "Bilderkriege" und die Möglichkeiten der Dekodierung durch die KonsumentInnen fortführen und erweitern.
...
Insgesamt bleibt zo hoffen, dass diese Initiative "Dialog. Diskussion. Demokratie" fortgesetzt wird, um ein dem digitalen Medienzeitalter entsprechendes Sensorium für die Auseinandersetzung mit Gewalt im Krieg, aber auch mit Gewalt innerhalb der Gesellschaft im Frieden zu schaffen.
->   Mehr über die Initiative "Dialog.Diskussion.Demokratie" auf der Homepage der Stadt Wien
...
Der Historiker Oliver Rathkolb ist wissenschaftlicher Leiter des Demokratiezentrums Wien.
->   Demokratiezentrum Wien
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010