News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Die Vor-Denker des Cyberspace  
  Dass Theoriedebatten über Medien nicht nur den geneigten Laien oft ratlos zurücklassen, ist für den deutschen Kulturwissenschaftler Joseph Vogl kein Wunder. Zu sehr, so Vogl, orientieren wir uns bei diesen Debatten an einem diffusen Begriff von Massenmedien. Mediendebatten haben schon existiert, als es den Begriff Medien noch gar nicht gab. Gerade der geschärfte historischen Blick verrät für Vogl eines der Schlüsselprobleme der Netzwerkgesellschaft: die Bewältigung von Redundanz, also die Selektion aus einem Überfluss an Daten.  
Ein altes Fach mit neuer Konjunktur
In der Debatte über die Rolle der Medien erlebt ein Fach, das immer wieder zu Grabe getragen wurde, eine neue Konjunktur: die Literaturwissenschaft. Die mittlerweile zu Klassikern gewordenen Arbeiten von Philologen wie Walter J. Ong, Eric Havelock und Herbert Marshall McLuhan gelten immer noch als Marksteine für eine Beschäftigung mit der Wirkung und Funktionsweise von Medien.
Der Blick für künstliche Welten
Dass gerade Literaturwissenschaftler als Medientheoretiker hervortreten, ist für Vogl nicht überraschend.

"Literaturwissenschaftler haben ein geschärftes technologisches Bewusstsein für die Verfertigung künstlicher Welten", begründet Vogl im Interview mit science.ORF.at die Eignung des Philologen als Medientheoretiker.
Das Gespräch im Wortlaut

Joseph Vogl, selbst Literaturwissenschaftler, Wissenschaftshistoriker und Philosoph, hält eine Professur für die Geschichte und Theorie künstlicher Welten an der Bauhausuniversität Weimar und war zuletzt Gast am Internationalen Forschungszentrum Kulturwisschenschaften (IFK) in Wien.
->   Das gesamte Interview
Keine Angelegenheit von Literatur und Kunst
Die Frage, wie symbolisch bzw. "künstlich" Wirklichkeit verfasst sei, müsseja nicht nur in Bezug auf Literatur, Kunst und Fiktion gestellt werden, meint Vogl. Man könne diese Frage ebenso gut auf naturwissenschaftliche Texte und experimentelle Anordnung beziehen bzw. nach den Konstellationen fragen, die notwendig sind, um kohärente Wissenskonstellationen zu erzeugen,
erinnert Vogl an die Arbeiten Michel Foucaults.

Literaturwissenschaflter hätten immer schon danach gefragt, wie Textsysteme mit ihrer Umwelt vernetzt sind bzw. ob die Literatur prinzipiell ein privilegierter Ort für die Entschlüsselung von historischer Wirklichkeit ist. Der Geschichtsbegriff der Literaturwissenschaftler habe sich stets an symbolischen Ordnungen orientiert und nicht an lebensweltlichen Erfahrungsbegriffen.
Plädoyer für den genauen Blick
Auch die in modischen Theoriedebatten verstoßenen Vertreter der Geistesgeschichte wie etwa Wilhelm Dilthey hätten ein hohes medientheoretisches Bewusstsein erkennen lassen, verweist Vogl auf die Auseindersetzung Diltheys mit dem Verhältnis von Wissen und Archiv.

Gerade ein unverkrampfter Blick könne sehr oft medienwissenschaftlich brisante Fragestellungen auf das Tapet bringen, erinnert Vogl beispielhaft an das Feld der Mittelalterforschung: Die Mediävisten hätten stets ein
ausgeprägtes Sensorium für die Materialität von Kommunikationsformen gezeigt, da in diesem Fach immer schon das problematische Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine Rolle spiele.
Übersehene Mediendebatten
Mediendebatten, so Vogl, seien schon zu einem Zeitpunkt entfacht worden, wo der Begriff des Mediums noch gar nicht existiert habe. Die Diskussion über die Lesesucht im 18. Jahrhundert sei ein deutliches Beispiel dafür, als sich Ärzte, Psychologen und Physiologen mit der Verderblichkeit des Mediums Buch auseinander gesetzt haben.
Hürden in der Diskussion
Die Hürde für gegenwärtige Mediendebatten liegt für Vogl am Medienbegriff selbst. Für ihn ist der Medienbegriff allzu oft durch die einseitige Orientierung an den Massenmedien verstellt. Man müsse sich, fordert Vogl, zunächst einmal die Frage stellen, was ein Medium ist.

Da der Begriff eine große Spannbreite habe, falle gerade der Frage des Blickwinkels eine entscheidende Rolle zu: Ein technischer Medienbegriff zieht andere Schlussfolgerungen nach sich als ein Medienbegriff, der sich an symbolischen Ordnungen orientiert.

Für Vogl kann nur der Einsatz eines klar begrenzten Medienbegriffs und ein ständiges Hinterfragung desselben zu einer stichhaltigen Medientheorie führen.
...
Entwicklung, die alle Differenzen kassiert
Im Augenblick, erinnert Vogl aber, stehe man durch die digitalen Medien einer Entwicklung gegenüber, die alle Differenzen kassiere:

"Damit wird eine anthropologisch begründbare Ordnung durchkreuzt, eine Aufteilung, die besagt, dass etwa Lesen etwas anderes ist als Rechnen oder Hören etwas anderes als Sehen. Wir haben nun eine Maschine vor uns, die signalisiert, dass der Mensch nur über sehr gnädige Schnittstellen mit diesem Gerät kommunizieren und seine eigenen Sinne behalten darf. Das ist eine bisher noch unabsehbare Geschichte von Techniken, Sinnen, Menschenformen."
...
Das Diktat der Maschinen
Text verarbeiten, und hier stellt sich wieder eine Frage für den Philologen, heißt für Vogl im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung gleichzeitig Text produzieren. Das sei neu und erzeuge Experten, "die wissen, dass Texte machen Befehle geben heißt, Algorithmen zu schreiben, nach deren Diktat dann Maschinen arbeiten können".

Für die institutionelle Wissenschaft bedeute das, dass sich diese Phänomene mit einem klassischen Wissenschaftsbegriff nicht fassen ließen. Vogls Schlussfolgerung: Es sei ein "unheroischer Wissenschaftsbegriff" gefordert,
"dass dieses Expertenwissen und seine Geschichte nicht mehr von einem herkömmlichen Fachwissenschaftler bearbeitet werden kann". Die Wissenschaft sei aufgerufen, ein bisschen bescheidener und in verteilten Rollen zu agieren.
Das Netz und die Datenflut
Durch das Internet steht die Wissenschaft laut Vogl auch vor einer weiteren Herausforderung: Hatten Studenten in der Vergangenheit beklagt, dass Kanonbildung durch zu starke Ausschlussmechanismen betrieben wurde, so stehen genau dieselben Leute heute vor dem Problem, mit der Flut an
Information zu Rande zu kommen.

Redundanz-Bewältigung ist in diesem Zusammenhang das Zauberwort. "Das Netz", so Vogl, "hat für uns noch einmal in einer ganz besonderen Weise die Frage gestellt, welche Regeln und Diskursformationen nötig sind, damit überhaupt eine mehr oder weniger anschlussfähige Kommunikation entsteht."
Rückverwiesen auf die Ordnung des Diskurses
Die Patchwork-Kommunikation des Web habe jeden schon einmal in die Verzweiflung geführt und nach einer harten, kräftigen, effizienten Selektion rufen lassen.

Gerade das Netz verweise einen in einer fast schon Foucaultschen Weise auf die Ordnung des Diskurses, die man nun angesichts der textuellen Wucherungen selbst jeweils neu herstellen oder reproduzieren müsse: "Wir wollen nicht alle 'Informationen', die das Internet bietet, sondern wir wollen möglichst scharfe Selektionen. Das ist ein technisches ebenso wie ein wissenschaftliches Problem und macht die jeweiligen Diskursbedingungen immer wieder zur Verhandlungssache."
...

Bücher von Joseph Vogl zum Thema
Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. von Joseph Vogl, Claus Pias (u.a.), Deutsche Verlagsanstalt 2000.

Joseph Vogl (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, Wilhelm Fink Verlag 1999.
...
->   Bauhaus Uni Weimar | Fakultät für Medien
->   IFK | Wien
Gerald Heidegger, ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010