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Antidepressiva: Normalverbraucher ausgeschlossen  
  Bis zu 86 Prozent der depressiven Patienten werden bei der Forschung an passenden Medikamenten nicht berücksichtigt, behauptet eine US-Studie. Diese brisante Ausage wird von einem Wiener Experten mit Hinweis auf die Vorgangsweise und die geringe Zahl der Testpersonen bei dieser Untersuchung relativiert.  
Zu strenge Kriterien
In klinischen Studien über Antidepressiva würden die Versuchspersonen nach überaus strengen Kriterien selektiert. Dadurch seien vor allem ambulante Patienten von den typischen Untersuchungen über Wirkungen und Nebenwirkungen von Antidepressiva ausgeschlossen, erklärt Mark Zimmerman vom Rhode Island Hospital.

In der aktuellen Ausgabe des "American Journal of Psychiatry" beanstandet der Teamleiter der an der Brown University durchgeführten Untersuchung deshalb die gängige Forschungspraxis bei einschlägigen Studien.

Dem gegenüber kritisiert Johannes Tauscher, der Leiter der psychiatrischen Ambulanz des Wiener AKH, neben der zu geringen Anzahl an beteiligten Versuchspersonen auch die Vorgangsweise: Wenn man die Ausschlusskriterien von über 30 Studien "auf einen Haufen zusammenwerfe", sei die geringe Anzahl erreichter Personen vorprogrammiert.
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Studie und Ergebnis
Mark Zimmerman und seine Kollegen fassten die Ausschlusskriterien - und nur diese - von 31 verschiedenen Studien, die zwischen 1994 und 1998 durchgeführt wurden, zusammen. Diese "kumulierten" Ausschlusskriterien wandten sie allerdings nur an einem Sample von 346 an Depressionen erkrankten Personen an.

Nach diesen Ausschlusskriterien war die Forschung auf Patienten beschränkt, die ausschließlich an moderater bis schwerer Depression litten. Unberücksichtigt blieben daher Patienten mit psychotischen Eigenschaften, manischen Episoden, Suizidrisiko, vorhergehendem Alkohol- und Drogenmissbrauch oder instabilem medizinischen Befund. Einige Studien schlossen Patienten mit Zwangserkrankungen, Ess- und Angststörungen aus.

Alle Studien klammerten Patienten aus, deren Depression einen bestimmten Schweregrad nicht überschritt. Das Ergebnis: nur 14 Prozent der an Depression leidenden Patienten würden - laut Zimmerman - von der Forschung erreicht werden.
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Kritik und Forderung
66 bis 86 Prozent der eigentlichen "Konsumenten" von Antidepressiva würden laut Zimmerman von klinischen Studien ignoriert. Die Ausschlusskriterien würden die Ergebnisse über Gebühr verzerren.

"Was wäre, wenn Antidepressiva bei einigen der ausgeschlossenen Patientengruppen unwirksam sind? Es wäre ungerechtfertigt, diese Patienten den Nebenwirkungen auszusetzen", kritisiert der Experte.

Neben einem breiterem Spektrum von Patienten in zukünftigen Antidepressiva-Studien fordert Zimmerman, dass auch vermehrt alternative Behandlungen in die Therapie miteinbezogen werden.
Wiener Experte: "Paper" nicht repräsentativ
"Wenn man alle Ein- bzw. Ausschlusskriterien aller Studien auf einen Haufen zusammennimmt, ist die geringe Zahl von 14 Prozent leicht erklärbar", kritisiert Johannes Tauscher von der psychiatrischen Ambulanz des Wiener AKH.

Die Studie beziehe sich zudem nur auf ein sehr geringes Sample von 346 Patienten einer Ambulanz einer Klinik.
Mehr als 50 Prozent
In Österreich würden über die Hälfte der Patienten mit der Antidepressiva-Forschung erreicht, so der Experte weiter. "Unser Bestreben ist es, die Forschung möglichst 1:1 auf die tägliche Arztpraxis übertragen zu können."

Natürlich gäbe es Ein- bzw. Ausschlusskriterien, meint Tauscher. Man müsse bei den ersten Tests eines Medikaments die Patienten genau auswählen.
Zulassung und Markteinführung von Antidepressiva
Erst wenn sich ein solches Präparat "in seiner Wirksamkeit etabliert" hat, kommt es - meist simultan zur Markteinführung - zu weiteren Studien mit einem breiterem Spektrum von Patienten. Nach der Markteinführung gibt es zudem, wie der Experte erklärt, so genannte "Post Marketing" Studien.
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"Post Marketing" Studien
In Österreich gibt es wie überall auf der Welt "Post Marketing" Studien, bei denen eine "Anwendungsbeobachtung" durchgeführt werde. In Zusammenarbeit mit den Spitalsambulanzen, sowie den psychiatrischen Praxen würde mittels "Case Record Forms" (Patienten-Beurteilungsbögen) Verträglichkeit und noch nicht bekannte Nebenwirkungen erfasst.
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Medikamente aus der "Ferne"
Medikamente aus der EU und den Vereinigten Staaten würden vor der Zulassung in Österreich normalerweise noch einmal getestet.

Für Mittel aus den EU-Staaten gäbe es allerdings "vereinfachte Zulassungsbestimmungen". Verantwortlich für diese sei die Zulassungsbehörde des Gesundheitsministeriums.
Mehr über die "Volkskrankheit" Depression in science.ORF.at:
->   800.000 Österreicher sind schwer depressiv
->   Volkskrankheit Depression
 
 
 
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01.01.2010