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Studienabbruch: Scheitern oder Systemfehler?  
  Für die Hochschulpolitik sind Studienabbrecher ein Störfaktor. Persönlich wird der Abbruch eines Studiums oft als Scheitern empfunden. Eine neue Publikation und ein Symposion nehmen sich nun dieses kontroversiellen Themas an. Der Soziologe Franz Kolland hat dazu für science.ORF.at. einen Gastkommentar verfasst.  
Versagen oder gelungene Anpassung?
Von Franz Kolland

Studierende, die ihr Studium abbrechen, fallen aus dem Rahmen. Und wenn ihre Zahl eine bestimmte Schwelle überschreitet, dann fallen sie auf. Dies ist seit den 1970er Jahren in nahezu allen OECD-Staaten der Fall.

Eine hohe Abbruchquote gilt meist als ein Zeichen dafür, dass mit der Hochschulausbildung etwas nicht stimmt. Dabei wird das Phänomen des Studienabbruchs der Öffentlichkeit zumeist unter ökonomischen Gesichtspunkten nahe gebracht und vor allem Kritik an der Studienorganisation geübt.
Unterschiedliche Bewertungen
Die Bewertung des Studienabbruchs fällt jedoch je nach "Betrachter" unterschiedlich aus. Die Eltern sehen es meist negativ, die Freundin/der Freund positiv, der/die Abbrecher/in als Ausdruck einer mobilen Persönlichkeit.

Für die Hochschulen ist der Misserfolg von Studierenden ein Beweis für die hohen Leistungsanforderungen und für die hohe Qualität der Institution. Aus gesellschaftlicher bzw. bildungspolitischer Perspektive wird der Studienabbruch häufig als Indikator für ein ineffizientes und ineffektives tertiäres Bildungssystem betrachtet.
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Wer ist ein Studienabbrecher?
Wir stehen vor dem Problem, dass Personen, die "offiziell" Studienabbrecher/innen sind, sich nicht als solche verstehen bzw. sich nicht als solche zu erkennen geben. Es lassen sich etwa jene nicht als solche bezeichnen, für die der Abbruch eine Studienunterbrechung ist, oder jene, die zwar immatrikuliert waren, aber gar nicht richtig studiert haben.

Wer gar nicht richtig studiert hat, versteht sich selbst auch nicht als Abbrecher/in. Außerdem wird oftmals nicht unterschieden zwischen Hochschulwechslern, Studienfachwechslern und Studierenden, die ihr Studium endgültig abbrechen.
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Unklare Grenze zwischen Studium und Studienabbruch
Die Grenze zwischen Studium und Studienabbruch ist nicht immer klar. Eine solche existiert primär aus der Sicht der Hochschulverwaltung.

Das lässt sich schon allein daran zeigen, dass die Exmatrikulation in der überwiegenden Mehrheit der Fälle "amtswegig" erfolgt. Kaum ein/e Studierende/r wird, auch wenn sie/er längere Zeit keine Studienaktivität aufweist, deshalb selbsttätig eine Exmatrikulation vornehmen.
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Studienabbrecher in Österreich
Insgesamt können in Österreich von der Studienzeit her 45 Prozent der Studienabbrecher/innen zu den "frühen" Abbrechern/innen gezählt werden. Dazu gehören 16 Prozent, die gar nie richtig studiert haben, 15 Prozent, die am Ende des ersten Semesters abgebrochen haben, und 14 Prozent, die nach dem ersten Studienjahr nicht mehr weiter inskribiert haben.

Ein früher Abbruch deutet auf eine Neuorientierung der Interessen und Ziele des/r Abbrecher/in hin - das Studium wurde in vielen Fällen als Notlösung bzw. Überbrückung zu einer anderen Ausbildung oder zu einer Erwerbstätigkeit gesehen. Das Studium wird zur Orientierung umfunktioniert.
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Geschlecht und sozialer Status
Klar erkennbar ist in der Analyse ein geschlechtsspezifischer Einfluss, d.h. Frauen brechen früher das Studium ab. Die Wahrscheinlichkeit eines Abbruchs bei Kindern von Vätern mit Maturaabschluss ist höher als bei Kindern von Vätern mit Pflichtschulabschluss.

Im Gegensatz dazu ist bei Kindern von Eltern mit Hochschulabschluss kein signifikanter Effekt auf das Abbruchrisiko zu verzeichnen. Insgesamt ist die Bedeutung der sozialen Herkunft als Faktor zur Erklärung von Studienabbruch/Studienerfolg allerdings sehr gering.
Studienmotivation
Eine ausschließlich berufsorientierte Studienmotivation ist vor allem dann nicht tragfähig, wenn Studienschwierigkeiten bewältigt werden müssen. Die Integration in das akademische System gelingt eher, wenn es eine hohe Selbstverpflichtung (goal commitment) der/s Studierenden gibt, die Universität mit einem Abschluss zu verlassen.

Stark ausgebildete Bildungs- und Karriereerwartungen korrespondieren mit einer Verpflichtung gegenüber dem Studienziel. Ein stabiles Fachinteresse und eine intensive Beschäftigung mit dem Studiengegenstand begünstigen den Verbleib im universitären Bereich.
Rolle der Studienbedingungen
Unbefriedigende Studienbedingungen tragen zwar durchaus zum Abbruch des Studiums bei, doch sind letztere eher ein Schlusspunkt in einem durch andere Faktoren (z.B. Schulgeschichte, Erwerbstätigkeit) primär stimulierten kumulativen Erfahrungs- und Entscheidungsprozess zu sehen.

Studienabbruch ist mit eng mit Vollerwerbstätigkeit verknüpft. Es ist jener Einzelfaktor, der am meisten zur Erklärung des Studienabbruchs beiträgt.
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Gründe der Studienabbrecher nach eigenen Angaben
Am häufigsten wurde die Unvereinbarkeit des Studiums mit der Erwerbstätigkeit als Abbruchgrund genannt (55%). Danach folgten die Abbruchgründe "fehlendes Engagement im Studium" (46%), "Fremdheit der Universität" (46%), Theorielastigkeit des Studiums (45%) bzw. wegen einer anderen Ausbildung abgebrochen (38%) bzw. wegen schlechter Studienbedingungen (37%). Am wenigsten relevant sind aus der Sicht der Abbrecher/innen Leistungsdefizite, d.s. zu hohe Leistungsanforderungen (17%) bzw. Prüfungen nicht bestanden (11%).
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Vier Determinanten des Studienabbruches
Der Studienabbruch wird erstens als die Folge eines Prozesses von "Fehlentscheidungen" gesehen; der Studienabbruch wird psychologisiert bzw. "individualisiert".

Es war mein Fehler - ich habe nicht genau gewusst, was ich will - ich habe es probiert. Es war meine Entscheidung. Zur Psychologisierung gehört auch, dass der Abbruch als Folge mangelnder Karriereplanung interpretiert wird.
Unklare Leistungsmotivation
Studienabbruch bedeutet zweitens eine unklare Leistungsmotivation. "Eigentlich lerne ich nicht gerne, eigentlich mache ich nur so viel, dass die Kosten-Nutzen-Kalkulation sich nicht zu ungünstig auf andere Lebensinteressen auswirkt." "Irgendwie hat die Leistung immer gereicht."

Solche Aussagen bedeuten auch, dass Aufnahmeprüfungen und Zugangsselektionen über Wissensüberprüfung nur teilweise etwas über den zukünftigen Studienerfolg aussagen.
Ausdauermotivation
Neben der unklaren Leistungsmotivation spielt drittens die Ausdauermotivation eine Rolle. Ich mache das, was unmittelbar erreichbar ist. Lange Vorbereitungszeiten auf Vorlesungsprüfungen verlangen einen bestimmten Lernstil. Die mangelnde Ausdauermotivation beruht auch auf falschen bzw. unzureichenden Lerntechniken.
Entwicklungen des Arbeitsmarktes
Und schließlich ist der Studienabbruch Folge der Entwicklung des Arbeitsmarktes bzw. des Auseinanderklaffens von Bildungs- und Berufssystem.

Das Studieren wird vor dem Hintergrund angenommener Arbeitsmarktchancen immer wieder auf den Prüfstein gestellt. Der Abbruch ist letztlich ein Prozessgeschehen, es ist keine abrupte Entscheidung, wobei eine immer größere Distanz zu den ursprünglichen Zielen - man könnte auch sagen Normen universitärer Bildung - entsteht.

"Es geht auch ohne Titel"; "man kann ohne ein Studium genauso viel erreichen wie mit Studium." Beeinflusst wird diese Distanz vom Arbeitsmarkt. Dazu gehört dann die Aussage: "Lieber jetzt ein beschäftigter und gut bezahlter Studienabbrecher als später ein arbeitsloser Akademiker."
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Studienabbruch: Buch und Symposion
Prof. Franz Kolland, der Autor dieses Gastbeitrages, unterrichtet am Institut für Soziologie der Universität Wien. Am Freitag erscheint sein neues Buch:
"Studienabbruch: Zwischen Kontinuität und Krise. Eine empirische Untersuchung an Österreichs Universitäten", Wien: Verlag Braumüller.

Am 14. März (9.00 bis 19.00 Uhr) findet im Kleinen Festsaal der Universität Wien die Fachtagung "Studienabbruch" statt. Veranstalter sind die Universität Wien und das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Ziel der Tagung: ein internationaler Vergleich, Schaffung von Bewusstsein für diese Thematik und Formulierung von Massnahmen zur Senkung der Abbruchrate.

Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung finden sich auf der Homepage der Tagung. science.ORF.at wird sich in der kommenden Woche noch ausführlich mit dem Thema befassen und zur Debatte darüber einladen.
->   Homepage der Tagung "Studienabbruch"
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->   Universität Wien
->   Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
 
 
 
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01.01.2010