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Der Philosoph Hans-Georg Gadamer ist gestorben  
  Der Philosoph Hans-Georg Gadamer ist im Alter von 102 Jahren gestorben. Das bestätigte am Donnerstag eine Sprecherin der Stadt Heidelberg. Gadamer galt als Nestor der deutschen Philosophie und wichtiger Proponent der philosophischen Hermeneutik. Über den genauen Todeszeitpunkt und die Ursache wurden keine Angaben gemacht.  
Schüler Martin Heideggers
Gadamer wurde am 11. Februar 1900 als Sohn eines Chemieprofessors in Marburg geboren. Er wuchs in Breslau auf, studierte dann an verschiedenen Universitäten und promovierte 1922 in Marburg bei Paul Natorp.

Wichtigster Lehrer wurde für ihn Martin Heidegger, einer der einflussreichsten Denker des letzten Jahrhunderts. 1929 habilitierte er sich bei Heidegger mit einer Arbeit über "Platos dialektische Ethik".
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Lernen von Heidegger
Heidegger war anfangs wenig begeistert von dem jungen Studenten. In einem Brief schreibt er: "Vorläufig sehe ich gar nichts Positives bei Gadamer. Redet Begriffe und Sätze nach, aber von Philosophie hat er bislang nicht die leiseste Ahnung."

Erst nach dem Staatsexamen Gadamers ändert Heidegger seine Meinung und fordert den überraschten Schüler auf, sich bei ihm zu habilitieren. Gadamer berichtete dann auch später, es habe Leute gegeben, die mit Heidegger gut reden konnten, aber zu ihnen habe er nicht gehört. Er habe nur von ihm lernen können.
->   Martin Heidegger: Die Frage nach dem Sinn von Sein
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Nazis: "Auch das geht vorüber"
1937 wurde Gadamer außerordentlicher Professor in Marburg. Von dort folgte er zwei Jahre später einem Ruf als ordentlicher Professor nach Leipzig. Unter dem NS-Regime verhielt er sich nach Angaben der dpa "zurückhaltend".

Der aus dem Lateinischen übersetzte Leitspruch "Auch das geht vorüber" soll zu dieser Zeit sein Motto gewesen sein. 1946/47 wurde er erster Nachkriegsrektor der Universität Leipzig.
Übernimmt Lehrstuhl von Jaspers
1949 übernahm Gadamer den Lehrstuhl von Karl Jaspers in Heidelberg, wo er bis 1968 las. An seinen Lehrer Heidegger anknüpfend, entwickelte Gadamer seine philosophische Hermeneutik, eine Lehre von Verstehen, die über die klassische Lehre der Textauslegung hinausgeht.
Hermeneutik in "Wahrheit und Methode"
"Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluss, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozess", schreibt Gadamer in seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode".

Das 1960 erschienene Werk zeigt das Verstehen als die Erfahrung von Wahrheit. Dieses "Verstehen" lehrt Gadamer als grundlegende Haltung zur Welt und zu den Menschen. Das bedeutet konkret, dass die Bestände der kulturellen Überlieferung immer wieder neu interpretiert werden, und zwar im Lichte der Gegenwart und auch im Lichte einer offenen Zukunft.
Interpretiertes und Interpretierer
Die überlieferten Texte können immer nur vom eigenen Deutungshorizont her verstanden werden. Interpretiertes und Interpretierer stehen im Austausch miteinander. Dazu bedarf es allerdings der Besinnung, der hermeneutischen Methode.
->   Auszug aus Wahrheit und Methode (1960)
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"Der andere könnte Recht haben"
Besonders wichtig für ihn selbst ist von seinen frühen Studien an die Begegnung mit Texten der griechischen Antike. Seine Hermeneutik (griechisch "hermeneuein" = übertragen, erläutern, verstehen, integrieren) umfasst aber alle Formen des Verstehens, ist eine allgemeine Geisteshaltung.

Sie zeigt sich besonders im Zuhören und im Dialog, in der Bereitschaft, sich in die Sicht des Anderen zu versetzen, ihm auch Recht zu geben, fremde Fragen zu eigenen werden zu lassen. "Der oberste Grundsatz der Hermeneutik ist: Der andere könnte Recht haben", so Gadamer.
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Kritik gegenüber Genom-Entschlüsselung
In den letzten Jahren äußerte sich Gadamer kritisch sowohl gegenüber Formen privater Vereinzelung als auch gegenüber Totalitätsansprüchen der Politik und der modernen Wissenschaft.

Die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes hielt er etwa vor zwei Jahren für "erschreckend", darin liege die "Entwicklung hin zum vollkommen künstlichen, seines Schicksals und seiner Individualität beraubten Menschen".
Das letzte Buch: "Die Lektion des Jahrhunderts"
Nach seine Emeritierung im Jahr 1968 lehrte Gadamer viel im Ausland und publizierte bis ins hohe Alter. Erst Ende Februar 2002 hatte er sein neuestes Buch veröffentlicht. Bei
"Die Lektion des Jahrhunderts" handelt es sich um Dialoge mit dem römischen Philosophieprofessor Riccardo Dottori, einem langjährigen Schüler und Übersetzer Gadamers.

"In diesen Unterredungen haben wir (...) meine philosophische Entwicklung im 20. Jahrhundert in ihren Gesamtbezügen nachgezeichnet", schrieb Gadamer in seinem Geleitwort.

Er betrachtete das Werk jedoch keineswegs als bloße "Rückreise", sondern als "Neuvergewisserung der Voraussetzungen für eine Philosophie, die sich auf eine verantwortliche Verständigung mit ihrer Zeit und ihren Herausforderungen einlässt".
->   Gadamer Homepage (inkl. Bibliografie, Festschriften und Vorlesungen)
->   Gadamer-Homepage (englisch)
 
 
 
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01.01.2010