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Jean Baudrillard: Requiem für die Twin Towers  
  Jean Baudrillard, französischer Philosoph und Theoretiker der Simulation, liebt die Provokation. Sein jüngster Essay betraf das Attentat vom 11. September auf die "Twin Towers" in New York. Der Artikel löste in Frankreich heftige Diskussionen aus, er wurde sogar als "intellektueller Terrorist" bezeichnet. Über dieses Thema sprach Baudrillard am 17. März auch im Wiener Volkstheater.  
Widerstand gegen die Globalisierung
Die Anschläge des 11. September bezeichnet Baudrillard in seinem umstrittenen Essay als Reaktion auf die imperiale Haltung der Vereinigten Staaten, die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ihre Weltmachtstellung ungehemmt ausleben.

"Die Verdammten dieser Erde" setzten mit diesem Attentat gleichsam ein Zeichen der Notwehr, um auf ihre aussichtslose Situation hinzuweisen.
Absolutes Ereignis
Das Attentat auf die "Twin Towers" - ein "absolutes Ereignis" beendete eine Epoche, die durch einen "Streik der Ereignisse" gekennzeichnet war. Zwar gab es genügend Katastrophen und Anschläge; es fehlte jedoch das ultimative Ereignis, das weltweites Aufsehen erregte. "Die Welt ist nach dem 11.September eine andere" war ein vielzitierter Satz.
Vertauschung menschlicher Qualitäten
"Die "Twin Towers" sieht Baudrillard als Symbol des "immanenten Irrsinns der Globalisierung", der alle menschliche Werte in einen durch Geld gesteuerten, universellen Tauschwert verwandelt.

Menschliche Werte wie Freundschaft, Ehre oder Würde werden durch die Globalisierung vernichtet. Hier bezieht sich Baudrillard auf Ausführungen von Karl Marx, der "von der Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten durch den Kapitalismus" sprach.
->   Originaltext L'esprit du terrorisme (Le Monde)
->   Deutsche Teilübersetzung Der Geist des Terrorismus in der SZ
Hohepriester der Postmoderne oder Comic-Figur?
Die provokanten Thesen Baudrillards polarisieren: Seine Anhänger sprechen vom "Hohepriester der Postmoderne", der mit seinen kühnen, wagemutigen Thesen des soziologischen Diskurs vorantreibe.

Seine Gegner verspotten ihn als "Comic-Figur des sozialwissenschaftlichen Diskurses", dem es gefällt - so der Romanist Klaus Laermann - "reine Oberfläche als Tiefe zu verkaufen".
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Karriere von Baudrillard
Der 1929 in Reims geborene Baudrillard begann seine akademische Karriere als Deutschlehrer und übersetzte Werke von Bertolt Brecht und Peter Weiss ins Französische. Mitte der 60er Jahre lehrte er als Assistent an der Pariser Reformuniversität in Nanterre, dem Zentrum der Pariser Studentenrevolte. Neben seiner Lehrtätigkeit, die er 1987 beendete, verfasste er zahlreiche Bücher.
->   Baudrillard on the Web
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Ziel des Schreibens: Leeren Raum erzeugen
"Der Zweck meines Schreibens besteht vielleicht darin, einen leeren Raum zu erzeugen. So einen leeren Raum entstehen zu lassen, der aber schwer von Virtualität wie ein schwarzes Loch wäre, das ist mein Versuch. Mein Ziel ist es, einen kleinen, aber undurchdringlichen Punkt des Nicht-Kommunizierbaren zu erzeugen. Damit kann jeder anfangen, was er will".
Theoretiker der Simulation
Bekannt wurde Baudrillard durch seine Theorie der Simulation. Sie besagt, dass im Zeitalter der elektronischen Massenmedien der Zugang zu einer konkret erfahrbaren Wirklichkeit nicht mehr gegeben sei.

Die sinnlich erfassbare Realität geht verloren. Zeichenwelten oder künstlich erzeugte Bilder treten an ihre Stelle. Ein universelles Trauma nimmt so seinen Anfang: "die Agonie des Realen", das Ende der Wirklichkeit.
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Werke von Baudrillard
"Agonie des Realen", Merve Verlag
"Das Andere selbst", Passagen Verlag
"Die fatalen Strategien" Matthes und Seitz
"Von der Verführung", Matthes und Seitz
"Der symbolische Tausch und der Tod", Matthes und Seitz
"Amerika", Matthes und Seitz
"Das perfekte Verbrechen", Matthes und Seitz
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Subversion soll Verdrängung bewusst machen
In seinem Buch "Der symbolische Tausch und der Tod" vertritt Baudrillard die These, dass in der Geschichte der Menschheit der Tod grundsätzlich verdrängt wird. Diese Verdrängung ist notwendig, um die soziale Dressur des Menschen zu gewährleisten.

Um die Verdrängung bewusst zu machen, ist Subversion im Sinne von Verrücktheit, Aktionismus, Performance, Ekstase angesagt.
Theorienparodist
Baudrillard entzieht sich bewusst dem akademischen Diskurs und parodiert ihn in seinen Schriften. "Man sollte Baudrillard wie science-fiction lesen" lautet ein Ratschlag. Und Baudrillard selbst: "Wir müssen uns im Paradox halten, ohne in den Unsinn zu geraten"

Niki Halmer, Ö1-Wissenschaft
->   Interview mit Baudrillard zum 11. September (Spiegel)
->   Texte von Baudrillard
->   Mehr zu den Folgen des 11. September im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010