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Die Mathematik antiker Poesie  
  Die Untersuchung antiker Poesie rückt mittlerweile sogar ins Interesse der Mathematik: Jetzt wurde mittels mathematischer Analysen altgriechischer und römischer Lyrik entdeckt, dass griechische Dichter sich strenger an rhythmische Vorgaben hielten als ihre römischen Kollegen. Diese wiederum bevorzugten eine eher freiere und poetischere Form der Versdichtung.  
Vorgenommen wurde die mathematische Analyse antiker Versdichtung durch Ricardo Mansilla und E. Bush von der National Autonomous University of Mexico, wie "Nature scienceupdate" meldete.

Die von den Wissenschaftlern beschriebene mathematische Methode könnte für Altphilologen ein wertvolles Werkzeug darstellen, die Wechselspiele zwischen linguistischem Stil und poetischen Effekten von einer neuen Seite her zu beleuchten.
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Greeks were slaves to the beat
"Nature scienceupdate" berichtet in dem Artikel "Greeks were slaves to the beat" über die Arbeit der beiden Wissenschaftler. Deren Originalartikel "Increase of complexity from classical Greek to Latin poetry" ist noch nicht in einem Fachmagazin erschienen.
->   Greeks were slaves to the beat
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Eine Abfolge von Silben und Pausen
Die Wissenschaftler haben mit ihrer neuen Methode einen unkonventionellen Versuch unternommen, die Verse von Homer, Ovid oder Vergil zu untersuchen.

Dabei ignorieren sie die Semantik und Bedeutung der vorliegenden Inhalte wie Abenteuer, Liebe oder Philosophie und konzentrieren sich in erster Linie auf die Abfolge von langen und kurzen Silben bzw. den verwendeten Pausen.
Der Hexameter als Schlüsselelement
Das Schlüsselelement antiker Versstrukturen bildet der Hexameter, eine Versform, die aus sechs Einheiten besteht.
"Griechische und römische Dichter wie Homer oder Ovid arbeiteten mit dem Hexameter, allerdings setzten ihn die Griechen wesentlich strikter und konsequenter ein als die Römer", erklären die Forscher.

Die Verse der römische Autoren weisen demnach ein deutlich höhere rhythmische Komplexität auf, als die der griechischen Dichter. Als Vergleichselement dient den beiden Wissenschaftlern die Musik von Bach und Strawinsky.

Während die Verse der Griechen mehr mit der Musik des deutschen "Barock-Schwergewichts" Bach zu vergleichen sind, entsprechen die Dichtungen der Römer mehr der Musik Strawinskys.
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Hexameter
Der Hexameter ist der Grundvers des antiken Epos. Homers "Ilias" und "Odyssee", die ersten schriftlich fixierten Heldenepen der Menschheit, sind ebenso in Hexametern verfasst, wie die einige Jahrhunderte später entstandene Aeneis von Vergil.

Der Hexameter ist ein auftaktloser Sechsheber, der in der strengsten Variante ausschließlich aus Daktylen besteht, die jedoch teilweise durch einen Spondeus ersetzt werden, um Eintönigkeit zu vermeiden. Der Vers endet mit einem katalektischen, d.h. mit einer einfachen Senkung nur unvollständigen Daktylus. Durch die Vielzahl der Doppelsenkungen übertrifft der Hexameter selbst den Alexandriner an Länge.
->   Mehr über Hexameter
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Eine korrelative Methode
Die ersten fünf Einheiten eines Hexameters bestehen normalerweise aus so genannten Daktylen, die selbst aus einer langen und zwei kurzen Silben bestehen. Das sechste Element des Hexameters besteht aus einer langen und einer kurzen Silbe.

Andere rhythmische Elemente berücksichtigen und ermöglichen eine Variation dieser Silbenabfolgen. Dazu gehören der Spondeus, ein Versfuß aus zwei langen Silben und die Pause (Zäsur).

Die Forscher aus Mexiko wandelten die antike Poesie in Zeichenfolgen von drei Symbolen um, die für den Daktylus, den Spondeus und die Pause stehen. Dann entschlüsselten sie die Korrelationen zwischen den Symbolen in den Zeichenketten, z.B. die typische Distanz zwischen Pausen. Dies ermöglichte es ihnen, die Komplexität der Verse griechischer und römischer Dichter zu bestimmen.
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Mehr zu Daktylus und Spondeus
Der Daktylus ist ein Versfuß des antiken Epos aus einer langen und zwei kurzen Silben; er ist in der deutschen Literatur im Minnesang und wieder seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlich.

Der Spondeus ist ein Versfuß, den es im Deutschen in Reinform nicht gibt: Bestand er im alten Griechenland und Rom aus zwei gleichlangen Silben, so müsste er in unserer akzentuierenden Sprache aus zwei gleichstarken Hebungen bestehen. Selbst in einem Wort wie "Vollmond" wird die erste der beiden Silben stärker betont als die zweite.
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Lösung endloser Debatten
Die vorliegende Analyse könnte lang bestehende Debatten in der Altphilologie lösen helfen. Manche Sprachwissenschaftler bezweifeln z.B. die tatsächliche Existenz von Homer, bzw. dessen Urheberschaft von "Odyssee" und "Ilias".

Mit den mathematischen Gesichtspunkten von Mansilla und Bush betrachtet, zeigt die "Ilias" die strengere Beachtung der Hexameterform als die "Odyssee". Die "Odyssee" erinnert die Forscher nach ihrer Analyse eher an die Dichtung des römischen Lucretius.
Strikte Griechen, poetische Römer?
Poesie scheint beim ersten Anblick nicht sonderlich geeignet für mathematische Analysen. Doch andererseits arbeiteten gerade die griechischen Versschmiede sehr strikt und fast "mathematisch" nach bestehenden Hexametervorgaben.

Die präzise Einhaltung rhythmischer Strukturen bei griechischen Autoren sollte die lyrische Dichtung von der Alltagssprache möglichst deutlich abheben und auf diese Weise ihre nahezu rituelle Bedeutung betonen.

Die strenge Einhaltung rhythmischer Vorgaben erleichterte auch das Erinnern und die Wiedergabe lyrischer Inhalte - wurde doch Poesie bei den Griechen in erster Linie mündlich übertragen. Die spätere Tendenz, vor allem der römischen Dichter, die eigenen Verse niederzuschreiben, scheint zu einer größeren Freiheit im Umgang mit vorhandenen Rhythmusstrukturen geführt zu haben.
->   Mehr über römische Dichtung und Literatur
->   Mehr über Lyrik und Versformen
->   Universidad Nacional Autónoma de México
 
 
 
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01.01.2010