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Die Evolution des Kiefers  
  Die "Erfindung" des Kiefers ermöglichte im Laufe der Wirbeltierevolution den Übergang von saugenden Ernährungsformen zu räuberischen Lebensweisen. Ein amerikanischer Zoologe hat nun die entwicklungsgenetischen Ursachen der Kieferbildung untersucht und ein verantwortliches Gen entdeckt.  
Wie in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature" zu lesen ist, war die Ausschaltung eines spezifischen Entwicklungs-Gens, des so genannten HoxL6-Gens, eine Vorbedingung für diese evolutionäre Innovation.
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Lamprey Hox genes and the origin of jaws
Der Artikel " Evolutionary biology: Lamprey Hox genes and the origin of jaws" erschien in der aktuellen Ausgabe von Nature 416, 386 - 387 (2002).
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
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Kiefer ermöglicht Rauben
Die zu den kieferlosen Wirbeltieren gezählten Neunaugen stellen ein evolutionäres Relikt dar: Ihre Raspelzunge und ihr Saugmund ermöglichen nur eine vergleichsweise primitive Ernährungsform. Eine prädatorische, d.h. räuberische Lebensform ist für diese Organismen nicht möglich. Diese wurde erst durch die evolutionäre Erfindung des Kiefers möglich.

Dass diese Innovation eine sehr "erfolgreiche" Bildung war, kann man unter anderem daran erkennen, dass fast alle gegenwärtig existierenden Wirbeltiere, wie Fische, Reptilien, Amphibien, Vögel und Säuger einen Kiefer aufweisen. Die Konstruktionsform hat sich offensichtlich gegenüber den kieferlosen Bauplänen durchgesetzt.
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Wirbeltiersystematik
Nach einer älteren Systematik teilt man die Wirbeltiere in zwei Gruppen, die Kieferlosen (Agnatha), zu denen etwa das Neunauge zu rechnen ist, und die Kiefermünder (Gnathostomata), zu denen alle anderen Wirbeltierformen zu rechnen sind. Hauptkennzeichen der Gnathostomata ist ein Kieferskelett aus umgewandeltem Kiemenbogen mit gelenkig verbundenem Ober- und Unterkiefer.
->   Mehr zur Systematik der Wirbeltiere
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Ursachen der Kieferentwicklung
Die genetischen Ursachen der Kieferbildung lagen bislang im Dunkeln. Bekannt war nur, dass in den Embryonen der Kiefermünder der Kieferknorpel aus dem so genannten Mandibularbogen hervorgeht, wo keines der Hox-Gene aktiviert wird.

Die Gruppe der Hox-Gene wirkt in der Umsetzung von Körperbauplänen mit. Bisherige Forschungen ergaben, dass eine künstliche Aktivierung derselben zu einer Missbildung des Kieferapparates führt.

Aus diesem Grund lag es nahe, dass die Kieferentwicklung von der Regulation der Hox-Gene abhängig ist, wie nun vom Zoologen Martin J. Cohn von der University of Reading, Division of Zoology, anhand von Versuchen mit Neunaugen gezeigt wurde.
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Hox-Gene
Die Hox-Gene stellen eine Unterfamilie der Homöobox-Gene dar, die in allen bisher untersuchten vielzelligen Tieren vorkommen. Hox-Gene wirken als Regionalisierungsgene welche entlang der Körperlängsachse die regionale (positionelle) Identität der Zellen festlegen (Positionsinformation). Die Hox-Gene bei Gliederfüßern (Arthropoden) und Wirbeltieren liegen auf dem Chromosom als Cluster vor. Während der Evolution der Gliederfüßer und Wirbeltiere korrelierte die Veränderung der Expression von Hox-Genen mit der Veränderung der Körperbaupläne.
->   Mehr zu Hox-Genen
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Gen-Aktivierung bei Kieferlosen
Cohen konnte nachweisen, dass in der Embryonalentwicklung des Neunauges in der Mundregion das HoxL6-Gen exprimiert, d.h. in ein Protein übersetzt wird.

Bei allen kiefertragenden Wirbeltieren ist dies nicht der Fall, was den den Schluss zulässt, dass die Evolution des Kiefers mit einer Unterdrückung des HoxL6-Gens einher ging.
Experimentum crucis
Um sicher zu gehen, dass die Kieferlosigkeit des Neunauges ein evolutionär ursprünglicher Zustand, d.h. keine sekundäre Rückbildung ist, führte Cohen ähnliche Versuche mit Lanzettfischchen durch.

Diese zeigten ein ähnliches Expressionsmuster im Kopfbereich. Dies ist deshalb ein guter Hinweis für die Richtigkeit der Hypothese der Gen-Unterdrückung, da Lanzettfischchen nach einem noch "primitiveren", d.h. evolutionär ursprünglicheren Bauplan gestaltet sind, als dies bei Neunaugen der Fall ist.
Notwendig, aber nicht hinreichend
Freilich sind mit diesem Ergebnis noch nicht die gesamten genetischen Ursachen der Kieferbildung aufgedeckt worden. Vielmehr ist es so, dass die Hox6-Unterdückung nur eine notwendige Vorbedingung für die weitere evolutionäre Entwicklung war.

Wie viele Gene und Bildungsschritte zu einer kompletten Kieferentwicklung führen, wird Gegenstand zukünftiger Forschungen sein.
->   Homepage von Martin J.Cohen
 
 
 
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01.01.2010