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Musikgeschmack: Eine Frage des Sozialstatus?  
  Die Vorliebe für bestimmte Musik korrelliert mit dem Bildungsniveau und dem sozialen Status ihrer Hörer - zumindest war das bisher so. Kultursoziologische Studien in Nordamerika berichten nun von der langsamen Auflösung dieses Zusammenhangs: Sozial hochgestellte Personen etwa beweisen ihre Weltläufigkeit immer stärker durch die Streuung ihres Musikgeschmacks und nicht wie bisher aufgrund ihres Hanges zu E-Musik. Eine aktuelle Studie aus Deutschland hingegen sieht die direkte Zuordenbarkeit von Sozialstatus und klassischer Musik nach wie vor als gegeben.  
Intellektuelle und sozial hochgestellte Personen haben in den 90er Jahren ihre musikalischen Vorlieben deutlich verändert, behaupten jüngere US-amerikanische Studien aus der Kultursoziologie. Danach bevorzugen Menschen mit hohem Sozialstatus nicht mehr nur klassische Musik, sondern hören fast alle populären Musikstile.

Diese "Allesfresser-Hypothese" nimmt der Musikwissenschaftler Hans Neuhoff kritisch unter die Lupe, wie das sozialwissenschaftliche Internet-Projekt "sowinet.de" berichtet.
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"Allesfresserei" als Merkmal höherer Geschmackskultur
Die These, die vor allem der US-amerikanische Wissenschaftler Richard Peterson vertritt, scheint frühere Erkenntnisse der Musiksoziologie auf den Kopf zu stellen. Klassische Musik ist demnach kein Charakteristikum mehr für den sozialen Rang ihrer Hörer, und umgekehrt legen Menschen aus der Oberschicht auch gar keinen großen Wert mehr auf eine Abgrenzung der "edlen" klassischen Musik von populäreren Musikstilen.

Peterson geht sogar davon aus, dass heutzutage gerade die musikalische "Allesfresserei" ein Merkmal höherer Geschmackskultur sei: Für den modernen Kulturmenschen ist es fast unwürdig, sich nicht in allen Musikrichtungen auszukennen.
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In Deutschland bleibt man elitär
Der Berliner Musikwissenschaftler Hans Neuhoff suchte nun nach solchen Allesfressern unter deutschen Konzertbesuchern. Zwischen November 1998 und Oktober 1999 wurden insgesamt 6.443 Besucher von 20 Konzerten in Berlin zu musikbezogenen Themen und zu ihrer sozialen Selbstbeurteilung befragt.

Neuhoff kommt in seiner Studie zu ganz anderen Ergebnissen als die amerikanische Untersuchung. Demnach kann in Deutschland von musikalischer Allesfresserei kaum die Rede sein: Wer die "intellektuelle" klassische Musik bevorzugt, der kann ganz nach traditionellem Muster mit den meisten anderen Musikstilen wenig anfangen.

Oft lehnen diese elitären Hörer andere Musikrichtungen sogar ab. Nur die Jüngeren hören zusätzlich zur Klassik noch Rock oder Pop, auf Schlager oder Volksmusik jedoch blicken sie herab.
Unterschiedliche Musikstile
Neuhoff hinterfragt, inwieweit die unterschiedlichen Resultate möglicherweise auf methodische Ursachen zurückzuführen sind. So kann etwa die Auswahl der Musikstile nicht exakt aus der amerikanischen Studie übernommen werden.
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Bluegrass, Gospel und Blues...
Der Amerikaner Peterson ging von acht verschiedenen Musikrichtungen aus: Rock, Broadway musicals, Country Music, Mood/Easy Listening, Bluegrass, Gospel, Blues und Big Band Music. Die deutsche Liste stützt sich dagegen auf Rock, Musical, Country & Western, Pop, Schlager, Volksmusik, Dance/Wave sowie Rap/Hip Hop und Heavy Metal/Punk/Hardcore.

Nur drei der Kategorien stimmen in beiden Listen überein. Mood/Easy Listening kann man zwar noch zum Pop zählen, doch Bluegrass, Gospel und Blues sind spezielle amerikanische Stilrichtungen, die in dieser Form in Europa nur wenig Verbreitung gefunden haben.
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Nationale Musikkulturen
Vor allem aber führt Neuhoff die kulturellen Differenzen zwischen Europa und den USA als Ursache für die ungleichen Ergebnisse an. Insgesamt zeigten sich offenbar die Amerikaner toleranter, was ihre musikalischen Vorlieben betrifft.

Auch sind die Grenzen zwischen U- und E-Musik in den USA fließender als in Europa. Gerade die Country- und Western-Musik, scheinbar das natürliche Gegenstück zur deutschen Volksmusik, besitzt in Amerika einen ganz eigenen Stellenwert.
Country als US-Kulturbestandteil
Während deutsche Bildungsbürger Volksmusik mit Nichtachtung strafen, ist die Country- und Westernmusik in den Vereinigten Staaten wesentlicher Bestandteil der Kultur, sie gilt sogar als authentische Musik des weißen Amerika.

Zugleich bleibt die klassische Musik ihrem Ursprung nach in Europa verwurzelt und wird in Amerika als Importartikel angesehen. Dass dort Opernhäuser und Orchester - anders als in Europa - privatwirtschaftlich betrieben werden, trägt auch nicht gerade zur Verbreitung klassischer Musik in den USA bei.
Musik als Statussymbol?
Vor allem in Deutschland ist dagegen die E-Musik fest in Geschichte und Gesellschaft verankert. Nach wie vor, führt Neuhoff aus, gibt es in Deutschland europaweit die meisten Musikschulen, die meisten Orchester und Opernhäuser sowie die meisten musikproduzierenden Rundfunkanstalten.

Dennoch will der Berliner Musikwissenschaftler einen Wandel im Musikgeschmack nicht gänzlich abstreiten: Vor allem junge, hoch Gebildete gaben in der Umfrage an, neben Klassik auch Rock- und Popmusik zu mögen.
Selektives Hören bei besonders Interessierten
Einem Grund für die nur scheinbare Verbreitung der Allesfresserei widmet der Musikwissenschaftler besondere Aufmerksamkeit: Wem Musik nicht so wichtig ist, dem dürfte recht gleichgültig sein, was er hört, also findet er oder sie alles gut.

Gerade solche Freunde klassischer Musik, die häufig Konzerte besuchen und demnach wohl als sehr musikinteressiert gelten können, legen auch besonderen Wert darauf, nur das Richtige zu hören. Je mehr Interesse an Musik, desto selektiver ist also der musikalische Geschmack. Dieser Faktor ist sogar wichtiger als das Alter oder eben der soziale Status selbst.

Offenbar ist die Gruppe der elitären Musikhörer mit den Statuseliten nicht oder nicht mehr identisch: Zum Beispiel legen wahrscheinlich "Yuppies" auf ganz andere Signale ihres hohen Sozialstatus Wert als ausgerechnet auf den Musikgeschmack, meint Neuhoff: Die Marke ihres Autos gebe darüber doch viel besser Auskunft.
->   www.sowinet.de
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Der Originalartikel von Hans Neuhoff "Wandlungsprozesse elitärer und populärer Geschmackskultur? Die "Allesfresser-Hypothese" im Ländervergleich USA/Deutschland" ist erschienen in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
->   Abstract des Artikels
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01.01.2010