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Die Stadt und ihre Kinderspielplätze  
  Kinderspielplätze in Städten gelten als Erholungsräume, wo sich Kinder im Spiel sozial entfalten können. Ihre Entstehungsgeschichte zeigt aber, dass diese urbanen Räume stark reguliert wurden und Spielformen vorherrschten, die weniger pädagogogischen Anliegen, als politischen und ökonomischen Überlegungen gehorchten. Die amerikanische Kunsthistorikerin Deborah Broderson, derzeit Junior-Fellow am IFK, beschreibt sie in einem Gastbeitrag für science.ORF.at als "Orte der Kontrolle".  
Freiluft-Turnen oder Training für künftige Rekruten?

Bild: Bildarchiv ÖNB, Wien
Von Deborah Broderson

Obwohl der Kinderspielplatz eine relativ neue Erfindung ist, gehört er heute zu den fixen Bestandteilen der städtischen Landschaft. Die Allgegenwart des Spielplatzes beginnt um 1900, als philanthropische Vereine Spielplätze finanzierten, um Krankheit und "antisoziales" Verhalten in der Arbeiterklasse zu bekämpfen.

Eine sozialreformerische Bewegung hat das Konzept des Spielplatzes also zu einem Gemeinplatz gemacht, doch die Ideen, die hinter dem Spielplatz stecken, stammen aus dem 18. Jahrhundert und leiten sich in erster Linie eher von nationalistischen und didaktischen als von philanthropischen Diskursen her.
Zwischen pädagogischer Theorie ¿
Die beiden Hauptfaktoren im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die zur Entstehung des Kinderspielplatzes führten, waren die im Entstehen begriffene theoretische Pädagogik und die Entwicklung der Gymnastik-Bewegung.

Erziehungs-Reformer wie der Schweizer Johann Pestalozzi und sein berühmtester Schüler, Friedrich Fröbel, initiierten Forschungsinstitute, in denen Kinder zu Leibesübungen angehalten und im Freien unterrichtet wurden.
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Der erste "Sandgarten"
Eine Gruppe von Fröbels Anhängern rief den ersten Kinderspielplatz in einem öffentlichen Park ins Leben, und zwar in Berlin in den 1860er Jahren. Dieser erste "Sandgarten" - der Name wurde gewählt, um auf eine andere Innovation Fröbels anzuknüpfen, den "Kindergarten" - verfügte weniger über eine aufwendige moderne Ausstattung wie Rutschbahnen und Schaukeln als vielmehr über einen Sandhaufen mit kleinen Schaufeln und Eimern. Der moderne "Sandkasten" ist ein direkter Nachkomme dieser frühen "Sandgärten".
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¿ und militärischem Propädeutikum
Berlin war auch der Ort der frühen Gymnastik-Bewegung. Besorgt über das Fehlen körperlicher Ertüchtigung für künftige Rekruten, begann "Turnvater" Friedrich Jahn, seine Schüler hinauszuführen aus der Stadt und sie zum Wandern und zum Bäumeklettern zu ermutigen.

Die Buben wurden auch regelmäßig auf neu entwickelten Geräten - wie Barren und Reck - unterwiesen. Angetrieben von feurigem Nationalismus, prägte Jahn den Begriff des "Turnens", um seine Vorstellungen von der französisch-klingenden "Gymnastik" abzusetzen.
Turnvereine in Stadt und Land
Jahns Unterricht wurde im deutschen Sprachraum sehr populär (auch wenn in Österreich aus politischen Gründen der Begriff "Gymnastik" beibehalten wurde), und in der Mitte des Jahrhunderts waren Turnvereine in Stadt und Land zu einer gängigen Erscheinung geworden.

Obwohl Jahn seine Arbeit mit Kindern begonnen hatte, wurde Turnen im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem Sport für Erwachsene und Kindern, die ihn oft auf den selben Plätzen ausübten. Die Bewegung schloss auch Frauen und Mädchen nicht ganz aus: Bereits in den 1830er Jahren existierten Vereine für Frauenturnen, auch wenn diese meistens eigene und getrennte Institutionen waren, die sehr oft als "hygienische"/Gesundheits-Institutionen (Heilgymnastik) geführt wurden.
Die Schulen und ihre Spielplätze
Unerwarteterweise nahm der Kinderspielplatz zuerst seinen Weg als öffentliche Institution und erreichte erst später den Schulhof.
Das sehr strenge Curriculum der Schule des 19. Jahrhunderts ist jedoch nur ein Teil der Gründe für die langsame Entwicklung des Schulspielplatzes.

In den Gebäuden vieler Schulen lebte und wohnte der Direktor, und es kam nur selten vor, dass er willens war, nach der Schlussglocke noch kostbaren Garten mit seinen Schülern zu teilen.
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Obligatorischer Turnunterricht
Im späten 19. Jahrhundert wurde der Turnunterricht in Deutschland und Österreich obligatorisch, und so wurde es zwingend notwendig, auf Schulhöfen Spielplätze einzurichten. Von den Geräten der Turner in der Mitte des 19. Jahrhunderts leitet sich ein großer Teil der Ausstattung moderner Spielplätze ab, etwa die Schaukel, die Wippe und das Ringelspiel.
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Und wann kommen die ersten Wippen nach Wien?
Bis zu den 1920er Jahren verbanden sich auf den öffentlichen Spielplätzen in Wien traditionelle Gymnastik-Ausrüstung mit Sandkästen und Gras-Spielfeldern.

Modernes Spielplatz-Equipment tauchte erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs auf. Im Lauf der (Nachkriegs-)Zeit verlor der Spielplatz seine militärischen und pädagogischen Eigenschaften und wird heute als Erholungsraum für Stadtkinder aller Altersstufen und Geschlechter geschätzt.

(Übersetzung aus dem Englischen: Eva Cescutti)
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Vortrag von Deborah Broderson im IFK
Deborah Broderson spricht zum Thema am 15. April 2002 um 18 Uhr im IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Der Vortrag findet in englischer Sprache statt.

Deborah Broderson studierte Kunstgeschichte und Kunsttheorie am Reed College in Portland, Oregon, und am School of the Art Institute in Chicago. Sie promovierte an der Duke University und ist derzeit Junior Fellow am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien mit einem Post-Doc-Projekt zur Geschichte des Kinderspielplatzes in den Metropolen des 20. Jahrhunderts.
->   IFK
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01.01.2010