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Medizin-Ausbildung: "Praktisch ein Fernstudium"  
  Was junge Mediziner können und was sie können sollten - dies haben zwei Wissenschaftlerinnen vom Institut für Psychologie der Uni Wien bei der Evaluation der Medizinausbildung an der Uni Graz untersucht.  
In der Befragung von Studenten, Turnusärzten sowie Lehrenden durch die Bildungspsychologinnen und Evaluierungsexpertinnen Christiane Spiel und Barbara Schober zeigte sich, dass die Kompetenzen der Studierenden und Absolventen weder von ihnen selbst noch von den Lehrenden als hoch eingeschätzt werden.

"Alarmiert" ist Spiel über die Lernkompetenzen der Studenten. Nach dem derzeitigen Curriculum sei die Medizin-Ausbildung "praktisch ein Fernstudium".
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Missverhältnis zwischen Ideal und Realität
Die Analyse des Medizincurriculums wurde im Vorfeld der geplanten Studienreform durchgeführt, die ab Herbst dieses Jahres eine völlig neue Medizinerausbildung bringen soll. Befragt wurden dazu rund 500 Studierende, Absolventen im Turnus, Lehrende sowie die Betreuer der Turnusärzte an den Uni-Kliniken Graz und den Landeskrankenhäusern.

"Von keiner dieser vier Gruppen wurden die Kompetenzen der Studierenden und Absolventen hoch eingeschätzt", erklärte Spiel. Es gebe ein klares Missverhältnis zwischen dem Ideal, was im Studium vermittelt werden sollte, und dem, was tatsächlich vermittelt werde.
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"Fehleinschätzung der eigenen Kompetenzen"
Die Studierenden und Turnusärzte zweifeln stark an ihren ärztlichen Fertigkeiten und ihren Lernkompetenzen. Noch niedriger stufen die Lehrenden die Fähigkeiten der Jungmediziner ein.

"Diese Diskrepanz in der Einschätzung zwischen Jungmedizinern und ihren Betreuern weist auf eine Fehleinschätzung der eigenen Kompetenzen in Relation zu den Anforderungen im Arztberuf bei den Absolventen hin", sagte Spiel im Gespräch mit der APA.
Verschlechterung im Turnus: "Praxisschock"
Die während des Turnus zunehmend schlechter werdende Selbsteinschätzung der Jungärzte spricht nach den Evaluatorinnen für einen fortdauernden "Praxisschock". Im Laufe der praktischen Ausbildung stelle sich wohl heraus, dass die im Studium erworbenen Kenntnisse für die Praxis nicht ausreichen.
Mittelmäßige Lernkompetenz
Als "Alarmsignal" wertet Spiel die im Zuge der Evaluierung festgestellte "mittelmäßige Lernkompetenz" der Studierenden. Sie würden weitgehend alleine und primär aus Büchern lernen, die Hochschulen hätten es nicht geschafft, die Medizinstudenten an die Uni zu binden.

"Mit Ausnahme der Praktika erwerben sich die Studenten ihr Wissen nicht an der Uni. Nach dem derzeitigen Curriculum ist das Medizinstudium im Wesentlichen ein Fernstudium", betonte Spiel, die die schlechte Lernkompetenz vor allem auch im Hinblick auf den hohen Weiterbildungsbedarf der Mediziner kritisch einschätzt.
Mehr Praxisbezug gewünscht
Angesichts dieser Evaluierungsergebnisse bezeichnet es Spiel als verständlich, dass alle vier befragten Personengruppen die geplante Reform des Medizinstudiums begrüßen. Von den Studierenden und Jungmedizinern würden vor allem mehr Praxisbezug und früherer Patientenkontakt gewünscht.

An erster Stelle möglicher neuer Pflichtinhalte nennen die Studierenden Erste Hilfe und Notfallmedizin, gefolgt von Medizinrecht und Fachenglisch - für Spiel alles Inhalte, die für das medizinische Handeln wichtig sind.
Expertin: Ergebnisse übertragbar
Auch wenn Spiel nur das Studium in Graz evaluiert hat, geht die Psychologin davon aus, dass sich die Ergebnisse auch auf die anderen beiden Medizin-Standorte Wien und Innsbruck weitgehend übertragen lassen. Schließlich gebe es dort nach dem alten Curriculum ähnliche Lernbedingungen für die Studierenden und den gleichen Studienaufbau wie in Graz.
->   Medizinische Fakultät der Universität Graz
->   Institut für Psychologie der Universität Wien
 
 
 
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01.01.2010