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Jesuitenarchitektur in Italien 1540 - 1773  
  Die Analyse sämtlicher Baulichkeiten eines der wichtigsten Orden der Gegenreformation ermöglicht ein neues Gesamtbild der italienischen, damit aber auch der europäischen Architekturgeschichte. Der zweite, die mailändische Ordensprovinz behandelnde Band eines umfassenden Werkes zur italienischen Jesuitenarchitektur steht nun kurz vor dem Abschluss, wie der Kunsthistoriker Herbert Karner in einem Gastbeitrag in der Reihe "Young Science" berichtet.  
Die Baudenkmäler der Mailändischen Ordensprovinz
Von Herbert Karner, Kommission für Kunstgeschichte (ÖAW)

Mit diesem Band entsteht ein weiterer Teil eines umfassenden Corpus-Werkes, dessen erster, den Baudenkmälern der römischen und neapolitanischen Provinz gewidmeter und von Richard Bösel verfaßter Band 1985 im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienen ist und schon 1986 ein zweites Mal aufgelegt werden musste.
Architektonische Leistungsschau

Mailand, Professhauskirche S. Fedele.
Aufgabe des Forschungsvorhabens ist es, die in über zwei Jahrhunderten hervorgebrachten architektonischen Leistungen einer ganzen Ordensprovinz monographisch zu behandeln und ihre vielschichtigen historischen Zusammenhänge zu untersuchen.

Insgesamt werden 40 Ordensniederlassungen - Professhäuser, Kollegien, Konvikte, Noviziats- und Tertiatshäuser und vor allem die jeweils angeschlossenen Kirchengebäude - dargestellt. Territorial umfasst das Forschungsgebiet die Lombardei, den Piemont, Ligurien und das zu Genua gehörende Korsika.
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Wichtige Niederlassungen
Die prominentesten dieser Niederlassungen sind in Mailand das ehemalige Professhaus mit der Kirche S. Fedele und das ehemalige Collegium S. Maria di Brera, in Turin das Collegio Vecchio mit SS. Martiri und das Collegio dei Nobili (heute Akademie der Wissenschaften und Ägyptisches Museum), in Genua das Collegium SS. Gerolamo e Francesco Saverio (heute Universität); weitere wichtige Gebäude befinden sich etwa in Pavia, Cremona, Mondovì, San Remo und auch in Nizza. Architekten wie Pellegrino Tibaldi, P. Orazio Grassi, Francesco Maria Ricchini, Andrea Pozzo, Filippo Juvarra, Francesco Gallo und Bernardo Vittone bilden ein nahezu umfassendes "Who is who" der oberitalienischen Architekturgeschichte der Spätrenaissance- und Barockarchitektur.
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Baugeschichte, Analyse und Kritik
Auf Grundlage der Text- und Bilddokumente des Archivum Romanum Societatis Jesu sowie der Staatsarchive in Mailand, Genua und Turin werden zunächst die Gründungs-, Planungs- und Baugeschichten der einzelnen Objekte zu verfasst, sodann ihre Beschreibung, Analyse und kunsthistorische Kritik.
Turin - Collegio dei Nobili
 


Der innerhalb des Ordens höchst kontroversiell diskutierte, von dem Jesuiten Carlo Maurizio Vota entwickelte und von dem Architekten Michelangelo Garove geplante Bau der Adelskollegs wurde zwischen 1680 und 1701 errichtet. Das von beiden ursprünglich konzipierte Mega-Projekt hätte annähernd die dreifache Grundfläche beansprucht. Heute beherbergt der Komplex die Akademie der Wissenschaften, das Ägyptische Museum und die Galleria Sabauda.

Die hier abgebildete Planzeichnung mit zwei Querschnitten ist Teil eines zwölfteiligen Plansatzes, um 1750, aus dem Turiner Archivio di Stato.
Der Orden im Spiegel der Architektur

Mondovì, Kollegskirche S. Francesco Saverio
Das Projekt basiert auf dem eigenständigen, unmittelbar aus der Themenstellung entwickelten methodischen Ansatz, das im Auftrag der Jesuiten entstandene, z.T. sogar von eigenen Kräften hervorgebrachte Architekturschaffen mit den spezifischen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des Ordens in Beziehung zu setzen.

Gegenstand der Untersuchung sind dabei nicht nur Zusammenhänge auf der Ebene baugeschichtlicher Tatsachen, sondern auch wesentliche form- und ideengeschichtliche, also künstlerische wie außerkünstlerische Aspekte.

Es gilt, gestalterische Lösungen und inhaltliche Aussagen vor dem Hintergrund der institutionellen Identität der Gesellschaft Jesu zu beleuchten, eventuelle Spezifika und Konstanten aufzuzeigen und -wenn möglich - als Ausdruck einer "jesuitischen" Baukultur zu beurteilen.
Konstanten der Jesuitenarchitektur
Die Erkenntnisziele liegen also auf zwei einander bedingenden Ebenen. Zum einen wird zu klären versucht, inwieweit eine direkte Einflußnahme der Ordenshierarchie auf das konkrete Baugeschehen nachweisbar ist und wie sehr sich eine solche auf die baukünstlerische Gestaltung auswirken konnte.

Zum anderen geht es um die Frage nach typologischen und strukturellen Konstanten der "Jesuitenarchitektur". Diese Frage ist auch von wissenschaftsgeschichtlicher Relevanz, da sie unmittelbar den historisch belasteten Begriff "Jesuitenstil" berührt -ein Begriff, der seit dem spätem 19. Jahrhundert ideologisch gefärbt und dementsprechend kontroversiell diskutiert wurde.

Wenngleich diese Auseinandersetzung heute überholt ist, hat sich dennoch seit einigen Jahren erneut eine rege internationale Diskussion um den Anteil der Gesellschaft Jesu an der Entwicklung der neuzeitlichen Kunst entwickelt. Die Ergebnisse der hier vorgestellten Arbeit werden den architekturgeschichtlichen Aspekt dieser Diskussion entscheidend mitbestimmen.
Chieri - Noviziatskirche S. Antonio Abate
 


Anstelle eines gotischen Vorgängerbaus 1767 begonnener, und damit spätester Sakralbau der Jesuiten in der mailändischen Ordensprovinz, der erst nach der Aufhebung des Ordnes 1773 fertiggestellt worden ist. Errichtet nach Plänen des Architekten Giovanni Giacinto Bays auf Basis eines von Filippo Juvarra um 1734 gezeichneten Entwurfs.

Der hier abgebildete Kirchenlängsschnitt ist Teil eines Plansatzes von G. G. Bays, der im Turiner Archivio Storico dell¿Ordine Mauriziano aufbewahrt wird.
Ein neues Gesamtbild der Architekturgeschichte
Da mit der Themenstellung des Gesamtprojektes - Italiens Jesuitenbaukunst von 1540 bis 1773 - der Rahmen der Arbeit örtlich wie zeitlich außerordentlich weit gesteckt ist, kann mit entsprechend weitreichenden Erkenntnissen gerechnet werden.

Sie sind, soviel zeichnet sich ab, geeignet, das Gesamtbild der italienischen, ja der europäischen Architekturgeschichte wesentlich zu bereichern. Die Analyse der Niederlassungen der mailändischen Ordensprovinz sind eine entscheidende Voraussetzung dafür.
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"YOUNG SCIENCE" - Kurzbiographie Herbert Karner
Mag. Dr. phil. Herbert Karner, geboren 1958 geboren in Melk, NÖ; Studium der Kunstgeschichte 1983¿1989; Promotion 1995 (Hermann Fillitz / Richard Bösel). Freier Mitarbeiter des Österreichischen Bundesdenkmalamtes 1990-1995; seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Lehrbeauftragter an der Universität Wien.
e-mail: Herbert.Karner@oeaw.ac.at
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->   Gesuiti in Italia
->   Weitere Beiträge der Reihe "Young Science" in science.ORF.at
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->   "Young Science" auf der Homepage der ÖAW
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Literaturhinweise
R. BÖSEL, Jesuitenarchitektur in Italien 1540 ¿ 1773. Die Baudenkmäler der römischen und der neapolitanischen Ordensprovinz. Teil 1. Wien 1985.

L. PATETTA / ST. DELLA TORRE (Hrsg.), L'architettura della Compagnia di Gesù in Italia XVI¿XVII secolo. Atti del convegno, Milano 1990. Genova 1992.

S. DELLA TORRE / R. SCHOFIELD, Pellegrino Tibaldi Architetto e il S. Fedele di Milano. Invenzione e costruzione di una chiesa esemplare. Como 1994.

I. BALESTRERI / C. COSCARELLA / L. PATETTA / D. ZOCCHI (Hrsg.), I Gesuiti e l'architettura. La produzione in Italia dal XVI al XVII secolo. Milano 1997.

B. SIGNORELLI / P. USCELLO (Hrsg.), La Compagnia di Gesù nella Provincia di Torino ¿ dagli anni di Emanuele Filiberto a quelli di Carlo Alberto. Torino 1998.
 
 
 
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01.01.2010