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Mitochondrien-Vererbung nicht nur Frauensache?  
  Die Annahme, dass Mitochondrien nur mütterlicherseits vererbt werden können, galt bisher als unerschütterlicher Lehrsatz der Biologie und Medizin. Nun wurde zumindest in einem Fall demonstriert, dass die kleinen "Zellkraftwerke" auch über die väterliche Verwandtschaftslinie weitergegeben werden. Sollte sich herausstellen, dass diese Entdeckung keine Kuriosität, sondern ein verbreitetes Phänomen ist, müssten wohl manche Kapitel in Biologie-Lehrbüchern umgeschrieben werden. Doch nicht nur das: Die wichtigsten genetischen Untersuchungen zur Evolution des Menschen stützen sich auf die Annahme, dass mitochondriale Vererbung reine Frauensache sei. Möglicherweise müssen daher auch die Studien zum genetischen Ursprung des Menschen überdacht - wenn nicht sogar revidiert werden.  
Wissenschaftler des Universitätsspitals Kopenhagen behandelten einen Patienten, der an einer schweren Muskelerkrankung leidet. Nach einer Genanalyse stellte sich heraus, dass die Krankheit durch eine Änderung des Erbgutes seiner Mitochondrien bedingt ist.

Routinemäßige Verwandtschaftsvergleiche förderten dann eine wissenschaftliche Sensation zutage: Entgegen allen Regeln der Zellbiologie hatte der Patient 90 Prozent seiner Mitochondrien von seinem Vater - anstatt von seiner Mutter geerbt.
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"Paternal Inheritance of Mitochondrial DNA"
Die Veröffentlichung "Brief Report: Paternal Inheritance of Mitochondrial DNA" von M. Schwartz und J. N. Vissing erschien im "New England Journal of Medicine" (Band 347, Seiten 576-580).
->   New England Journal of Medicine
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Atmung - Geniestreich der Evolution
Normalerweise assoziert man mit dem Begriff "Atmung" die Verteilung von Luftsauerstoff durch die Lunge im Körper. Aus biochemischer Perspektive bezeichnet "Atmung" aber einen Prozess der Energiegewinnung:

In den "Kraftwerken der Zelle", den Mitochondrien, wird Sauerstoff entlang deren Membran transportiert - was zur Herstellung energiereicher Moleküle führt. Solche Stoffwechselprozesse nennt man nach dem griechischen Wort "aer" (für Luft) auch "aerobe" Stoffwechsel.

Diese Erfindung erwies sich als Geniestreich der Evolution, denn sie stellt Energie in ungemein hohem Ausmaß zur Verfügung. Kein Wunder also, dass fast alle "Eukaryonten" (d.h. die "modernen" Zellen mit echtem Zellkern) diese Innovation ihr Eigen nennen. Mitochondrien finden sich (fast) überall im Tier- und Pflanzenreich: Bei der Amöbe, dem Gänseblümchen - und natürlich auch beim Menschen.
Erschöpfung durch Muskelschwäche
Was passiert, wenn der Stoffwechsel der Mitochondrien streikt, zeigt der Fall des 28-jährigen Patienten am Universitätsspital Kopenhagen. Der junge Mann litt bei nur leichter körperlicher Betätigung unter extremen Ermüdungserscheinungen.

Eine erste Untersuchung ergab, dass sein Herz und seine Lungen gesund waren - und auch seine Muskeln erschienen normal. Nach genaueren Inspektionen entdeckten die behandelnden Mediziner allerdings, dass seine Muskeln nur sehr wenig Sauerstoff aufnehmen konnten.
Mutation bedingt Mitochondrien-Defekt
Der Fall wurde von Marianne Schwartz, einer Genetikerin am Universitätsspital Kopenhagen, mit molekularen Methoden weiter untersucht. Die Analyse ergab, dass der Patient zwei Mutationen im Erbgut seiner Mitochondrien trug.

Eine davon konnte als Ursache für sein Erschöpfungssyndrom dingfest gemacht werden. Um herauszufinden, ob der genetische Defekt eine Neubildung darstellt oder vererbt wurde, sequenzierte Schwartz auch Mitochondrien-DNA der näheren Verwandtschaft des jungen Mannes.
Die Sensation: Vater vererbte Mitochondrien
Zu ihrer großen Überraschung stellte die Genetikerin fest, dass die DNA des jungen Mannes jener seines Vaters und Onkels - nicht aber jener der Mutter glich. Dies stellt die bisherige biologische Lehrmeinung auf den Kopf:

Denn bis dato war man davon überzeugt, dass die Mitochondrien ausschließlich von der Mutter an die nächste Generation weitergegeben werden. "Es gibt nur eine Erklärung für diesen Befund", stellte Marianne Schwartz im Gespräch mit Reuters fest: "Es muss eine väterliche Vererbung der Mitochondrien gegeben haben."

Eine so genannte Muskelbiopsie ergab weiter, dass etwa 90 Prozent der Muskel-Mitochondrien durch den Vater vererbt wurden. Nur jene im Blut, den Haarwurzeln und Bindegewebszellen stammten von der Mutter.
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Wissenschaftstheoretische Konsequenzen
Wäre die Annahme der mütterlichen Organell-Vererbung ein strenges Naturgesetz (in der Wissenschaftstheorie spräche man dann von einer "deduktiv-nomologischen Erklärung"), dann wäre dieses durch die Entdeckung von Schwartz falsifiziert worden.

Mit anderen Worten: Der Satz "Mitochondrien werden ausschließlich durch weibliche Individuen vererbt" wäre dann schlichtweg falsch. Betrachtet man diese Aussage als Regel mit statistischer Aussagekraft (im Fachjargon eine "induktiv-statistische Erklärung"), dann kann sie - mit veränderten Geltungsbedingungen - weiter bestehen bleiben.
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"Bemerkenswert und unerwartet"
Dieses Ergebnis ist deswegen so überraschend, da im Rahmen der Befruchtung die Mitochondrien des Spermiums - gemäß der gängigen Lehrbuchmeinung - gar nicht in die Eizelle eindringen dürften.

Zwar gab es in letzter Zeit Hinweise darauf, dass dies doch der Fall sein könnte, man ging aber davon aus, dass die Mitochondrien des Spermiums dann selektiv zerstört würden.

R. Sanders Williams vom Duke University Medical Center in Durham bewertet die Studie daher als sensationell: "Diese Entdeckung ist bemerkenswert und völlig unerwartet", so Williams in einem schriftlichen Kommentar zur Studie.
Das Problem der Verwandtschaftsforschung
Auch in der Evolutionsbiologie könnte der nun entdeckte Fall weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Genetische Verwandtschaftsanalysen über lange Zeiträume stoßen normalerweise auf das Problem, dass nicht klar festgestellt werden kann, auf welchem Evolutionsweg ein spezifisches Gen in das Erbgut einer Untersuchungsperson gelangt ist.

Dies ist deswegen der Fall, weil mit dem Vorgang der sexuellen Rekombination die Chromosomen (und bisweilen auch einzelne Gene) der Eltern völlig zufällig durchmischt werden.
Der Ausweg: Mitochondrien-DNA
Die DNA der Mitochondrien bot sich als erfreulicher Ausweg aus diesem Dilemma an. Da diese, wie bisher angenommen, nur von der Mutter an die Nachkommen weitergegeben wird, vereinfacht sich die Analyse um einiges.

Die Mitochondrien-DNA verhält sich demnach - evolutionär betrachtet - wie das Genom eines asexuellen Organismus. Und bildet daher überschaubare Verwandtschaftslinien wie etwa bei Bakterien-Stammbäumen.
Konsequenzen für die Evolutionsbiologie?
Eine Reihe von Evolutionsmodellen basieren auf dieser Annahme. Die bekannteste ist wohl die "Out of Africa"-Hypothese, derzufolge der moderne Mensch zunächst in Afrika entstanden sei und sich erst dann auf allen anderen Kontinenten verbreitet habe. Inwieweit die Entdeckung von Marianne Schwartz zur Revidierung dieser und ähnlicher Theorien zwingt, ist noch nicht abzusehen.
Einzel- oder Regelfall?
Der entscheidende Punkt wird wohl die Häufigkeit der väterlichen Mitochondrien-Vererbung sein. Sollte es sich um einen extrem seltenen Einzelfall handeln, dann dürften die Evolutionsmodelle dieses wissenschaftliche Kuriosum unbeschadet überstehen.

Alan Templeton, Evolutionsbiologe an der Washington University, zweifelt jedenfalls an weiterführenden Konsequenzen für seine Zunft: "Dieser Fall ist so selten, dass er die Evolutionsabläufe über lange Zeiträume nicht beeinflusst", so Templeton im Gespräch mit Reuters: "Daher ist das keine Sache, die mich sonderlich beunruhigt."

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010