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Festkörperphysik "erklärt" menschliche Kooperation  
  Eines der wichtigsten Rätsel der Biologie und Sozialwissenschaften ist die Frage, wie Kooperation zwischen Tieren oder Menschen entstehen - und reiner Egoismus verhindert werden kann. Österreichische Mathematiker publizierten im Mai dieses Jahres ein spieltheoretisches Modell, das dieses Rätsel unter bestimmten Bedingungen zu lösen vermochte. Nun wurde eine erweiterte Version der bisherigen Analyse veröffentlicht. Das überraschende Ergebnis: Die Simulation menschlicher Verhaltensweisen am Computer ähnelt einem bekannten Modell aus der Festkörperphysik derart, dass man sich in Hinkunft genauere Rückschlüsse von dieser Disziplin auf die Sozialwissenschaften erhofft.  
Soziobiologie und Sozialwissenschaften haben zumindest zwei Dinge gemeinsam: Beide untersuchen die Eigenschaften von Sozialverbänden - seien sie nun tierischer oder menschlicher Natur. Und: Beide kämpfen mit einem hartnäckigen Problem, das an den Grundlagen der jeweiligen Disziplin nagt.
Das Beispiel "Schwarzfahrer"
Das Problem betrifft die Frage, wie aus einer Gruppe eigennütziger Individuen gemeinnütziges Verhalten entstehen kann. Ein Beispiel: Jeder nimmt gerne die Annehmlichkeit öffentlicher Verkehrsmittel in Anspruch. Allerdings ist die Begeisterung, dafür auch einen finanziellen Beitrag zu leisten (d.h. einen Fahrschein zu lösen), tendenziell geringer.

Mit anderen Worten: Gäbe es keine Beamten, die hin und wieder der Rechtschaffenheit der Fahrgäste auf die Sprünge helfen, wären öffentliche Verkehrsmittel wohl unfinanzierbar.
Das "Trittbrettfahrer-Problem"
Im Jargon der mathematischen Disziplin der Spieltheorie wird dieses Dilemma als "Trittbrettfahrer-Problem" bezeichnet. Um zu beantworten, unter welchen Bedingungen gemeinnütziges Verhalten entstehen kann, muss also zunächst die theoretische Hürde des Trittbrettfahrens überwunden werden.
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Bekannte Lösungen
Die bekannteste Lösung dieses Dilemmas, die im Rahmen der Soziobiologie entworfen wurde, ist das Konzept des so genannten "reziproken Altruismus", das auf den amerikanischen Biologen Robert Trivers zurückgeht.

Demnach entsteht Kooperation dann, wenn die Individuen nach dem Prinzip "Wie du mir, so ich dir" handeln können. Andere Modelle lösen (vor allem in den Sozialwissenschaften) das Problem, indem Strafen für Trittbrettfahrer eingeführt werden. Doch diese Lösungen setzen voraus, dass Betrüger erkannt oder verfolgt werden können.
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Anonymität verschärft das Problem
Sind die beteiligten Individuen allesamt anonym, dann ist das Problem besonders knifflig. In der Sprache der Spieltheoretiker spricht man dann von einem so genannten "public goods game" (PGG).
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Das PGG-Spiel
Ein anschauliches Beispiel für ein PGG-Spiel ist folgende Situation: Individuen empfangen pro Spielrunde einen fixen Geldbetrag und können diesen entweder gleich für sich verwenden oder in einen öffentlichen Topf investieren. Am Ende jeder Spielrunde wird der Wert des öffentlichen Geld-Topfs verdoppelt und zu gleichen Teilen an alle Spieler verteilt. Wenn sich jeder an diesem Angebot beteiligt, dann beträgt der Gewinn je Spieler 100 Prozent.

Allerdings gibt es auch hier ein Trittbrettfahrer-Problem: Spieler, die nichts in den Topf investieren, kommen in den Genuss der allgemeinen Ausschüttung und sind daher gegenüber kooperativen Teilnehmern im Vorteil. Aus diesem Grund bricht das kooperative Verhalten früher oder später zusammen - und der reine Egoismus verdrängt das gemeinnützige Verhalten.
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Die Lösung: Aussteigen möglich
Eine Gruppe von Mathematikern der Universität Wien veröffentlichte im Mai dieses Jahres eine elegante Lösung dieses Problems. Sie entwarfen eine Variante des PGG-Spiels, das sogenannte "voluntary public goods game" (VPGG).

Bei dieser Version steht es den Teilnehmern offen, aus dem Spekulationsspiel auszusteigen - und stattdessen eine geringe Fixverzinsung ihres Kapitals zu wählen.
Kooperation stirbt nicht aus
Diese Modifikation wirkt offenbar Wunder: Denn während das PGG-Spiel immer zum Zusammenbruch der Kooperation führt, ist das beim VPGG-Spiel nicht der Fall. Wenn nämlich alle Mitspieler zu Betrügern werden, dann sind die "Aussteiger" klar im Vorteil.

Die Analyse der Wiener Mathematiker ergab, dass unter diesen Spielbedingungen kooperatives Verhalten nicht zum Aussterben verurteilt ist.
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"Volunteering Mechanism for Cooperation"
Die Arbeit "Volunteering as Red Queen Mechanism for Cooperation in Public Goods Games" von Christoph Hauert, Silvia De Monte, Josef Hofbauer und Karl Sigmund erschien in der Fachzeitschrift "Science" (Band 296, Nummer 5570, auf den Seiten 1129-1132).
->   Zum Artikel
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Das erweiterte Modell
Christoph Hauert, Erstautor der "Science"-Studie und mittlerweile an der University of British Columbia tätig, entwarf nun eine Version des VPGG-Szenarios, die am Computer analysiert wurde. Bei diesem Modell wurden alle Spieler auf einer Fläche angeordnet.

Hier war zu beobachten, dass Bereiche, die von kooperativen Spielern dominiert waren, von Betrügern unterwandert wurden - und schließlich von diesen verdrängt wurden. Andererseits waren "Aussteiger" wiederum im Vorteil, wenn Egoisten vorherrschten - und diese mutierten daraufhin zu gemeinnützigen Teilnehmern.

Die Dynamik der wechselnden Spielstrategien kam auf diese Weise zu keinem Ende und bestätigte im wesentlichen die im Mai publizierten Ergebnisse.
Verhaltens-Muster
 
Bild: Physical Review Letters

Jeder Spieler ist in dem Modell durch ein Pixel repräsentiert. Blaue Pixel zeigen kooperative Spieler, rote Pixel zeigen Betrüger an. Gelbe Bereiche stehen für "Aussteiger".
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"Phase Transitions in Spatial Public Goods Games"
Die Arbeit "Phase Transitions and Volunteering in Spatial Public Goods Games" von György Szabó und Christoph Hauert erschien in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Physical Review Letters" (Band 89, 118101).
->   Zum Abstract des Artikels
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Von der Physik zur Sozialwissenschaft
Besonders bemerkenswert ist, dass die Eigenschaften dieser Computer-Simulation mit einem Modell aus der Festkörperphysik vergleichbar ist. Im so genannten Ising-Modell, bei dem der Magnetismus in Festkörpern untersucht wird, treten Muster auf, die jenen im Kooperations-Spiel derart frappant ähneln, dass sich die Forscher daraus Aufschlüsse für die Sozialwissenschaften erwarten.

Bis zu einer "Physik der Kooperation" ist es aber noch ein weiter Weg. Denn die angewandten Spielregeln sind natürlich krasse Vereinfachungen im Vergleich zu Situation in menschlichen Gesellschaften. Dementsprechend warnt Hauert vor allzu reduktionistischen Erklärungen: "Menschen sind komplizierte Wesen", so der knappe Hinweis des Studienautors.
->   Homepage von Christoph Hauert
 
 
 
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01.01.2010